Lassen Sie es krachen!
Wo waren Sie, als das Frauenstimmrecht 1971 in der Schweiz eingeführt wurde? In der Schule, am Arbeiten oder noch gar nicht geboren? Geschichte ist nichts Abstraktes, Weltfremdes – sollte es zumindest nicht sein. Geschichte ist das, was wir heute leben und worüber unsere Nachfahrinnen in fünfzig oder fünfhundert Jahren berichten werden. Sie werden auf uns zurückschauen, sich wundern, erzählen und interpretieren.
Für Historikerinnen und Historiker ist die allerjüngste Geschichte, die sogenannte Zeitgeschichte, immer ein etwas heisses Eisen, wegen der Betriebsblindheit, des mangelnden Abstands. Wir haben uns dennoch auf dieses Abenteuer eingelassen mit dem Buch «Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971–2021».
Mit «wir» sind sieben Historikerinnen gemeint. Caroline Arni beginnt ihre Einführung zur Vorgeschichte mit dem Ausruf «Endlich!». Und Elisabeth Joris, Anja Suter, Fabienne Amlinger, Leena Schmitter und Angelika Hardegger haben je einen längeren Essay zu jedem Jahrzehnt zwischen 1970 und 2020 verfasst. Ich habe als Herausgeberin das Projekt betreut.
Eine Bildstrecke vor jedem Essay erzählt die Geschichte der Frauenbewegung, von Frauenpower, von Demos, Politik, Lust und Frust auf ihre eigene Art. Und zu jedem Jahrzehnt wird eine spannende Frau porträtiert. Alles Persönlichkeiten, die ihre Sache mit viel Verve verfolgen – sei es die Frauengesundheit, eine nachhaltigere Finanzwelt oder der Bäuerinnenlohn. Es ist ein historisch fundiertes und zugleich leicht lesbares Buch geworden, der erste umfassende Überblick über die letzten 50 Jahre.
Im Spannungsbogen erkennt man, wie die Diskussionen und Kämpfe vonstattengingen, wie gerungen und wiederholt abgestimmt werden musste. Aber es war nicht nur Kampf. Die Frauen gingen ebenso lustvoll und neugierig wie kritisch an Themen heran, gründeten Frauenbands, publizierten, vernetzten sich global und reklamierten Öffentlichkeit für Themen wie Rassismus, Gewalt, Homosexualität und vieles mehr.
Die Autorinnen von «Jeder Frau ihre Stimme» werfen ihren je eigenen Blick auf die letzten fünfzig Jahre und zeigen, wie vielstimmig der Feminismus von Anfang an war. «Die Frau» und «den Feminismus» gibt es nicht. Fordernd und laut waren die einen, zahmer und um Integration bemüht die anderen. Und während einige sich von der rechtlichen Gleichstellung die grösste Hebelwirkung versprachen, träumten die anderen vom hierarchiefreien Frauenutopia.
Vieles, was ab den 1970er-Jahren zunächst nur als Forderung linker Aktivistinnen galt, wird heute von einer Mehrheit als Selbstverständlichkeit wahrgenommen: vom straflosen Schwangerschaftsabbruch, über Gleichstellungsbeauftragte bis zur Mutterschaftsversicherung. Die Schweiz sah 1971 deutlich anders aus als heute. Und der Blick zurück zeigt vor allem eines: wie unheimlich wichtig es war, dass Frauen endlich mitbestimmen durften. Dass sie Themen in Politik und Gesellschaft platzierten, die den Männern zuvor einfach nicht genügend relevant erschienen waren. Den Pionierinnen, die zäh durchhielten, gilt meine Bewunderung und mein Dank. Ohne sie wäre mein heutiges Leben kaum denkbar. Denn ja, das Private ist politisch.
Als 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, war ich sechs Jahre alt und wurde im April in Zürich eingeschult. Mein Vater war damals überzeugt, dass Mädchen nicht studieren sollten. Während ich zur Schule ging, stiegen Frauen auf die Barrikaden, gingen in die Politik, wurden Nationalrätinnen, weibelten für ein neues Eherecht und gleiche Bildungschancen. Angesichts des grossen gesellschaftlichen Wandels verblasste das väterliche Diktat. Die Tochter wurde nicht Sekretärin, sondern Verlegerin. Geschichte ist die Essenz unzähliger Biografien – meiner und Ihrer.
Wo werden Sie am 7. Februar 2021 sein? Schauen Sie sich die Aktionslandkarte von CH2021 an, und lassen Sie es krachen. Wer «Jeder Frau ihre Stimme» liest, versteht, dass gewiss nicht alles erreicht ist, dass aber kaum eine von uns das Rad fünfzig Jahre zurückdrehen möchte. Es wird ein Tag zum Feiern! Und zum Weitermachen!
«Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971–2021», herausgegeben von Denise Schmid, ist im Oktober 2020 im Verlag Hier und Jetzt erschienen.