Manifest CH 2021 – «Dampf machen»

Zum 50. Jubiläum des Frauenstimmrechts hat der Vorstand vom Verein CH2021 dieses Manifest auf den 7. Februar 2021 hin erarbeitet und dem Bundesrat zugestellt.

7. Februar 2021: 50 Jahre eidgenössisches Stimm- und Wahlrecht für Schweizer Frauen

 Manifest CH2021: «Dampf machen!»

A toute vapeur!    Avanti Tutta!   Full Steam Ahead!

Mit der Verweigerung des Frauenstimmrechts bis 1971 wurden den Schweizer Frauen* ihre Menschenrechte vorenthalten. Sie wurden vorsätzlich daran gehindert, ihre demokratischen Rechte auszuüben und damit ihre Rechtsordnung und ihre Gesellschaft mitzugestalten. Das jetzige Jubiläum könnte die Gelegenheit zu einer Anerkennung dieses Unrechts sein. Zur Diskussion steht eine Entschuldigung des Bundesrats.

Den Vorstandsfrauen von CH2021 geht es jedoch weniger um eine Entschuldigung als vielmehr um etwas Grundlegenderes und Zukünftiges.

Wir fordern den Bundesrat auf, in der nächsten Session einen Tag des Erkennens und Anerkennens des Unrechts und der Konsequenzen der Verweigerung des Frauenstimmrechts anzusetzen. Ziel ist es, aus den identifizierten Defiziten einen zeitlich verbindlichen Aktionsplan zur Verwirklichung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung zu verfassen. Das gewonnene Wissen und Verständnis sollen dazu führen, dass sich die vereinigte Bundesversammlung, die Regierung, aber auch die Öffentlichkeit, besonders die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen, ihrer kollektiven Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst werden, um Diskriminierung zu überwinden – in jeglicher Form.

Manifest CH2021

  1. Es braucht Einsicht und eine öffentliche Debatte

Erstens geht es uns um die Einsicht, zu erkennen und anzuerkennen, dass die Verweigerung des Stimm- und Wahlrechts für Schweizer Frauen Unrecht war. Seit dem 19. Jahrhundert forderten Frauen* und Frauengruppen, sowie einige wenige Männer*, immer wieder das Stimmrecht für Frauen* ein. Bis endlich 1957 der Bundesrat in seiner Botschaft zur Einführung des Frauenstimmrechts [1] die weitere Verweigerung als Verletzung des «Gebots der Gerechtigkeit» und «der Demokratie» und somit als Unrecht bezeichnete. Ab diesem Zeitpunkt konnten alle wissen, dass die Frauen* mit der Verweigerung ihres Stimmrechts in ihrer Menschenwürde verletzt waren und ihnen die Anerkennung als gleichwertige Menschen vorenthalten wurde. Entsprechend konnten sie sich nicht als Gleichberechtigte an der Gestaltung der Gesellschaft und der Demokratie beteiligen. Kurz: Das Recht, Rechte zu haben und einzufordern, wurde ihnen abgesprochen.

Zweitens geht es uns um eine öffentliche Debatte und ein gemeinsames Nachdenken darüber, wie es zu diesem Unrecht kommen konnte und weiterhin kommt, und welche Folgen und Wirkungen daraus entstanden sind und weiterhin entstehen. Deshalb wollen wir – über die Frage des Frauenstimmrechts hinaus – auf die Notwendigkeit der Überwindung aller Formen von Diskriminierung verweisen.

  1. Blick zurück: Wie konnte es zu diesem Unrecht kommen? Mit welchen Folgen?
  • Von Beginn an wurde darüber gestritten, ob Frauen* mitgemeint sind, wenn es in Artikel 4 der Bundesverfassung von 1874 hiess: »Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich». Und immer wieder wurde darauf bestanden, dass die Schweiz ein «Männerstaat» sei, und daher «nur die Schweizerbürger männlichen Geschlechts gemeint» seien.[2] Frauen* waren Männern* nicht ebenbürtig, konnten deshalb auch nicht gleichberechtigt sein, das heisst die gleichen Rechte wie die Männer* beanspruchen. Dadurch waren sie von der politischen Teilhabe ausgeschlossen, konnten lange keinen Einfluss auf die Rechtsordnung und die Gestaltung der Gesellschaft nehmen. Dies ist nicht nur eine Verletzung der Rechtsgleichheit als wesentliches Element der Demokratie, sondern auch ihrer Menschenwürde.
  • In der bürgerlichen Gesellschaft wurden Männern* und Frauen* unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben: Männer* wurden als rational, aktiv, bedeutsam, wertvoll und überlegen angesehen, Frauen* hingegen als emotional, passiv, unbedeutsam und minderwertig. Damit verbunden wurden ihnen unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche zugeschrieben: Beruf und Politik versus Familie, öffentlich versus privat. Die Folge dieser Einteilung noch heute ist nicht nur, dass Frauen* immer noch im Vergleich zu Männern* als minderwertig angesehen werden, sondern auch, dass ihre Tätigkeiten im famiIiären Bereich nicht als Arbeit bezeichnet werden und unbezahlt sind. Sie finden auch keinerlei Niederschlag im Bruttosozialprodukt (der Berechnung des Wertes der Gesamtleistung unserer Volkswirtschaft). Ihre Arbeit im beruflichen Bereich wird ebenfalls tiefer bewertet und schlechter entlöhnt. Die ständige Berufung auf diese Minderwertigkeit führte dazu, dass ihnen schliesslich auch das Recht abgesprochen wurde, politische Rechte zu fordern.
  • Ein Teil der Männer* war und ist auch heute noch nicht dazu bereit, ihre Vorrechte, Vorteile und Bequemlichkeiten aufzugeben, die mit dieser Einteilung und Wertung der Geschlechter und ihrer Rollen verbunden sind. Den Frauen* und ihren Möglichkeiten, sich gegen ihre Benachteiligung zu wehren, waren und sind immer noch enge Grenzen gesetzt – politisch (Männergremien), ökonomisch (u. a. Lohnungleichheit), zeitlich (Ressourcen) und sozial (Care-Arbeit). Dies macht die Überwindung der Defizite in der Gleichstellung so zäh.
  • Eine der tiefgreifendsten Konsequenzen, die die Frauen* durch das ihnen verweigerte Stimmrecht erfahren haben, mögen wohl darin bestehen, dass viele von ihnen den Glauben an die eigene Minderwertigkeit verinnerlicht haben. Die ständige Aufforderung, erst ‘wie Männer’ werden zu müssen, um Gerechtigkeit erfahren zu dürfen, ist ein wiederholter und immerwährender Angriff auf ihre Würde.
  • Bei alldem handelt es sich nicht um Vergangenes; Frauen* erleben Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Entwürdigung bis hin zu häuslicher und öffentlicher Gewalt, nach wie vor. Mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 sind – trotz aller Errungenschaften – die Benachteiligungen nicht überwunden. Frauen* werden immer noch so behandelt, als hätten sie die Gleichstellung nicht verdient.
  1. Blick nach vorn: Call for Action! «Dampf machen»

Wir fordern den Bundesrat auf, in der nächsten Session einen Tag des Erkennens und Anerkennens des Unrechts und der Konsequenzen der Verweigerung des Frauenstimmrechts anzusetzen. Ziel ist es, aus den identifizierten Defiziten einen zeitlich verbindlichen Aktionsplan zur Verwirklichung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung zu verfassen. Das gewonnene Wissen und Verständnis sollen dazu führen, dass sich die vereinigte Bundesversammlung, die Regierung, aber auch die Öffentlichkeit, besonders die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen, ihrer kollektiven Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst werden, um Diskriminierung zu überwinden – in jeglicher Form.

Zürich, 7. Februar 2021

Andrea Maihofer

Cécile Speitel

Elke Zappe

Elli von Planta

Mary Mayenfisch

Maya Dougoud

Marialuisa Parodi

Zita Küng

Fussnoten:

[1] Bundesblatt Nr. 10. Bern. 7.3.1957: 729. Die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten vom 22.2.1957 ist eine ausführliche Stellungnahme des Bundesrates anlässlich zweier Postulate von Ständerat Picot und Grendelmeier zur dieser Thematik. Botschaft 1957

[2] Botschaft 1957, S. 782

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