Danke, dass Sie dabei waren

2021 war für die Schweiz demokratiepolitisch wichtig. Es ist den vielen Akteurinnen und Akteuren gelungen, mit ihren Veranstaltungen, Analysen, Diskussionen, Ausstellungen, Filmen, Publikationen aufzuzeigen, dass das Nachdenken über unsere Demokratie von grosser Bedeutung und grösster Aktualität ist.

Das gigantische Demokratiedefizit – dass Schweizerinnen nicht zum Stimmvolk zählten – wurde bewusst in den Blick genommen. Die Wirkung und die Bedeutung für die Frauen, aber auch für die gesamte Schweiz, wurden ausgelotet und dargestellt. Die Folgen des 123-jährigen Ausschlusses und der späten Mitbeteiligung der Frauen an der Gestaltung der Schweiz sind noch längst nicht umfassend erkannt, verstanden und aufgelöst. Aber: Anfänge sind gemacht.

So ist klar: Die Schweiz darf sich nicht mehr als «Wiege der Demokratie» oder «älteste Demokratie der Welt» bezeichnen – sie war bis 1971 eine direktdemokratische Männerherrschaft, eine Androkratie. Wir können unsere direktdemokratischen Institutionen nicht geschlechterneutral betrachten. «Wer ist das Volk?» ist eine wichtige Frage, mit der wir uns immer wieder auseinandersetzen müssen.

Das bringt mich zu meinem demokratiepolitischen Highlight 2021: Die 2. Frauensession im Bundeshaus in Bern. 23 Beschlüsse wurden von den 246 über 18jährigen Frauen aus allen Landesteilen gefasst und als Petitionen den national- und ständerätlichen Kommissionen zur Bearbeitung übergeben. Fast ohne Gegenstimmen und Enthaltungen stimmten sie dem Antrag zu, dass sich in der Schweiz alle Einwohnerinnen und Einwohner, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, an unserer Demokratie beteiligen können, wenn sie länger als 5 Jahre in der Schweiz leben. Das ist eine echte Zukunftsvision. Ich habe die Diskussion auf der Tribüne verfolgt und war beeindruckt, wie Frauen ihre Erfahrungen des Ausschlusses dargestellt und daraus abgeleitet haben, dass es für die Individuen und die ganze Gesellschaft richtig und klug ist, neu zu bestimmen, wer zum Volk zählen soll. Ich bin gespannt, was unser Parlament mit dem Antrag machen wird.

Als Präsidentin des Vereins CH2021 bedanke ich mich sehr herzlich bei allen, die das Jubiläumsjahr zu diesem wichtigen Meilenstein der Demokratie gemacht haben. In allen Landesteilen, aus den verschiedensten sozialen Milieus, in unterschiedlichsten Organisationen und Kreisen ist das Bewusstsein über die Wichtigkeit der Demokratie aktualisiert worden.

Unser Vorstand hat das Manifest CH2021 «Dampf machen» formuliert. Es ist Auftakt und Motivation weiterhin dranzubleiben. Jede Stimme zählt. Machen Sie von Ihrer Stimme Gebrauch, treten Sie in den Austausch, bringen Sie Ihre Ideen in die Welt.

Alles Gute!
Zita Küng

 

Individualbesteuerung fördert Gleichstellung

 

Die in unserer Verfassung verankerten Besteuerungsgrundsätze basieren auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Aktuell wird die individuelle finanzielle Leistungsfähigkeit von Ehepaaren und Paaren, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, anders bewertet als die von Konkubinats-Paaren und Einzelpersonen. Das aktuelle Steuersystem kann für Paare, die als Einheit taxiert werden, von Nachteil sein, denn sie müssen mehr Steuern bezahlen als ein vergleichbares Konkubinats-Paar. Dies gilt vor allem dann, wenn beide Partner einer lukrativen Tätigkeit nachgehen. Durch eine Umstellung auf Individualbesteuerung würden diese steuerlichen Nachteile von zusammen veranlagten Paaren endgültig beseitigt.

Der Zivilstand einer Person darf keinen Einfluss auf deren steuerliche Behandlung haben. So lautet eines der Ziele der Volksinitiative „Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)“, die am 8. März 2021 anlässlich des Internationalen Frauentags in Bern präsentiert wurde. Die Frauen der FDP haben sich mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammengetan, um ein gerechteres Steuersystem zu etablieren, Abhilfe gegen die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft zu schaffen und Gleichbehandlung zu fördern.

Das aktuelle Steuersystem sorgt dafür, dass insbesondere Frauen nach dem Mutterschutzurlaub nicht mehr in die Arbeitswelt zurückkehren. Aufgrund einer höheren Steuerprogression und zusätzlicher Kosten für die Kinderbetreuung reduzieren viele Frauen ihre Arbeitszeit oder sind dazu gezwungen, komplett aus dem Beruf auszusteigen.

In der Folge stehen die Bildung und die wertvolle Berufserfahrung dieser Frauen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Ein Wechsel des Steuersystems würde folglich nicht nur eine Ungerechtigkeit beheben, sondern auch dem seit vielen Jahren zu beobachteten Fachkräftemangel entgegenwirken. Darüber hinaus haben Personen, die über längere Zeit aus der Arbeitswelt ausscheiden, nahezu keine Chance mehr, Karriere zu machen. Die Individualbesteuerung soll steuerliche Anreize dafür schaffen, einer lukrativen Tätigkeit nachzugehen und für Chancengleichheit in der Arbeitswelt sorgen.

Darüber hinaus weist die Initiative auch auf Vorteile für die Finanzierung unserer Sozialwerke hin: Wenn mehr Menschen arbeiten und Beiträge bezahlen, sorgt dies ebenfalls für die Sicherstellung sozialer Sicherheit.

Die Initiative ist hochaktuell, denn die Frauen und Männer in unserem Land müssen sich frei entscheiden können, in welchem Familienmodell sie leben und wie sie sich erwerbsmässig organisieren wollen, um ihr Leben zu finanzieren und sich um ihre Familie zu kümmern, ohne für bestimmte Entscheidungen steuerlich bestraft zu werden. Auch die Tatsache, dass das Familienmodell, bei dem der Mann als Familienoberhaupt das Geld nach Hause bringt und die Frau sich in erster Linie um den Haushalt kümmert, als überholt gilt, müsste sich im Steuerrecht widerspiegeln.

Im Jahr 2016 hat das Schweizer Stimmvolk eine Volksinitiative gegen die Heiratsstrafe abgelehnt. Damals wurde bereits während der Abstimmungskampagne kritisiert, dass sich die Initiative zu stark auf die traditionelle Ehe stütze. Wäre die Abstimmung anders ausgegangen, wäre die Einführung einer Individualbesteuerung heute nicht möglich.

Mit dem 50igsten Jubiläum des Frauenstimmrechts ist nun wirklich die Zeit für ein einfacheres, transparenteres und gerechteres Steuersystem gekommen, bei dem jede und jeder unabhängig vom Zivilstand, vom gelebten Familienmodell und von der Erwerbstätigkeit behandelt wird.

Autorin: Anna Giacometti, FDP-Nationalrätin und Mitglied des Initiativkomitees Individualbesteuerung 

 

 

 

 

 

geschlechtergerechter.ch – der Ort für den Geschlechterdialog

Der Verein Geschlechtergerechter lancierte im Dezember 2021 den Debattenraum geschlechtergerechter.ch rund um ein sehr emotional und kontrovers diskutiertes Alltagsthema: Geschlecht und Gesellschaft. Als digitaler Ort für den Geschlechterdialog bietet #geschlechtergerechter Aktuelles und Historisches, Fakten und Geschichten, Zahlen und Gefühle.

Ob wir es wollen oder nicht: Das Geschlecht ist noch immer ein wichtiger Teil unseres gesellschaftlichen Seins. Geschlechterungleichheiten betreffen Männer, Frauen und alle dazwischen, oftmals ganz persönlich. Echte Gleichstellung bezieht somit alle mit ein. Nur gemeinsam kommen wir vorwärts. Genau deshalb wurde im Dezember 2021 die von Monique Bär initiierte und gemeinsam mit Linno, Sensor Advice, Sotomo, Stapferhaus und Stillhart Konzept und Gestaltung umgesetzte Plattform geschlechtergerechter.ch ins Leben gerufen.

Die Vision

#geschlechtergerechter ist ein Debattenraum für möglichst viele Strömungen, Meinungen, Ansätze und Lebensentwürfe rund um das Thema Geschlecht und Gesellschaft. Die Plattform ist ein Labor für ein modernes, demokratisches Miteinander und soll deshalb fair, offen und vielfältig sein. Es sollen Wege, Ansätze und Ideen zur Erreichung der Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit nebeneinanderstehen. Dazu verbindet #geschlechtergerechter Menschen, bündelt Kräfte und erprobt neue Arten des Konsenses. Denn das Ziel ist eine integrierende und zukunftsfähige Gesellschaft. #geschlechtergerechter ist ein Weg dahin.

Das bietet #geschlechtergerechter

Als digitaler Ort für den Geschlechterdialog zeigt #geschlechtergerechter informativ und erfrischend Aktuelles und Historisches, Fakten und Gesichter, Zahlen und Gefühle: In der Rubrik «Geschichte» kann in Highlights aus 100 Jahren Geschlechtergeschichte und historischen Touren gestöbert werden. In der Rubrik «Gesichter» erzählen Menschen jeden Alters Lebensgeschichten und antworten offen und ehrlich auf kleine und grosse Geschlechterfragen. Unter der Rubrik «Debatte» werden vielfältige Beiträge zu aktuellen und brisanten Geschlechterthemen publiziert. Mit jährlich wiederkehrenden Studien in der Rubrik «Gesellschaft» legt #geschlechtergerechter den Grundstein für eine faktenbasierte Debatte.

Die grosse Befragung

Einen ersten Grundstein haben wir Ende 2021 mit der Publikation der #geschlechtergerechter-Befragung zum Themenfokus «Geschlecht und Identität» gelegt. Rund 2’700 Menschen aus der Schweiz haben an der Studie von Sotomo und #geschlechtergerechter teilgenommen. Es geht dabei nicht um richtig oder falsch, sondern darum, wie die Schweizer Bevölkerung das Spannungsfeld von Geschlecht und Identität erlebt und wahrnimmt. So zeigen die Ergebnisse beispielsweise, dass der gesellschaftliche Wandel alleine noch nicht dazu führt, dass der Umgang mit Fragen zu Geschlecht und Identität selbstverständlich geworden sind. Oder dass nicht nur heterosexuelle Männer tendenziell eher stereotype Vorstellungen von weiblicher und männlicher Attraktivität haben. Oder auch, dass die eigene Geschlechtsidentität besonders wichtig ist für Männer, die politisch rechts stehen. Alle Ergebnisse finden Sie im angehängten Studienbericht. Viel Spass beim Lesen!

Statistik erlebbar machen

Sie denken sich jetzt vielleicht, dass Statistiken öde sind? Nicht bei #geschlechtergerechter! Im «Töggelikasten» können Sie nämlich ausgewählte Ergebnisse aus der grossen #geschlechtergerechter-Befragung interaktiv erkunden. 100 Töggeli stehen dabei für die Schweizer Bevölkerung. Ein Töggeli entspricht damit einem Prozent der Schweizer Bevölkerung. Sie selbst bestimmen, welche Antworten die Töggeli Ihnen geben sollen. Reinschauen lohnt sich: www.geschlechtergerechter.ch/gesellschaft.

Links und Downloads

Plattform: www.geschlechtergerechter.ch

Töggelikasten: https://geschlechtergerechter.ch/gesellschaft

Studienbericht: PDF-Download

Vote 71/21 – lustvolle Demokratie = feministische Demokratie

Wie würde die Schweiz aussehen, wenn nur Frauen, inter, nicht-binäre und trans (FINT) Personen abstimmen dürften?

In jedem Fall wissen wir, wie die Schweiz aussieht andersrum: dann, wenn nur Männer abstimmen können. Das war nämlich der Fall für Jahrzehnte bis vor 50 Jahren – oder 30 Jahren in einigen Ecken. 1971 wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz eidgenössisch anerkannt. 2021 jährt sich das Jubiläum dieses demokratischen Grundrechts zum 50igsten Mal. Wir, Les Créatives, nutzten diesen historischen relevanten Zeitpunkt als Anlass um aufzuzeigen, dass Frauen, inter, nicht-binäre und trans Menschen politische Entscheidungen in der Schweiz stark beeinflussen können und in Zukunft auch vermehrt sollten. Viel zu lange wurden uns die demokratischen Instrumente vorenthalten und es ist an der Zeit diese zurückzuerobern.

Laut der Professorin Nathalie Giger, Spezialistin für vergleichendes politisches Verhalten an der Universität Genf, wählen Frauen anders als Männer und sind mehr auf soziale und ökologische Themen sensibilisiert. In einer Zeit, in der der Entzug eines demokratischen Grundrechts unvorstellbar erscheint, kehrten Les Créatives die Situation vor 1971 auf spielerische Art um und starteten ein ambitioniertes wie innovatives Projekt: VOTE 71/21. Mit der Abstimmung, in der nur Stimmen von FINT Personen, Ausländer*innen und Schweizer*innen ab 16 Jahre gezählt wurden, tragen Les Créatives die wichtigsten Änderungsansätze bezüglich Gleichstellung direkt in die Schweizer Politik.

Ein provokantes Projekt zwischen Kunst und Politik mit dem Ziel: die Schweizer Demokratie feministischer zu gestalten

© Kenza Wadimoff

Von Mai bis November 2021 wurde das VOTE 71/21 Projekt realisiert:

Die Abstimmungsvorlagen wurden von einer feministischen Task Force zusammengestellt, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen andere Formen der Diskriminierung einsetzen. Die Teilnehmenden wurden speziell ausgewählt, um ihre Expertise in das Projekt einzubringen, wobei besonderes Augenmerk auf Intersektionalität gelegt wurde. Anschliessend wurden die Wahlobjekte einer breiten nationalen Konsultation mit verschiedenen Kollektiven und Verbänden unterzogen.

Während der dreiwöchigen Abstimmungsphase wurden Stimmen digital sowie analog – an den ersten feministischen Landsgemeinden die es je gab – gesammelt, bis sie am 25. November während dem interdisziplinären und feministischen «Les Creatives» Festival final präsentiert wurden.

Über 1000 Frauen und Geschlechterminderheiten haben an der Online-Abstimmung teilgenommen und mehr als 300 Personen an den beiden feministischen Landsgemeinden, die in Appenzell Innerrhoden und Genf organisiert wurden.

© Kenza Wadimoff

Eine gross angelegte Volksabstimmung, bei der nur die Stimmen von Frauen berücksichtigt werden, hat es weder in der Schweiz noch irgendwo sonst auf der Welt je gegeben. Dieses Projekt wollte den Stimmen, die noch zu unsichtbar sind, Gehör verschaffen und die notwendigen Veränderungen zur Erreichung der Gleichstellung beschleunigen. Mit diesem Projekt verhofften wir uns auch die Wahlbeteiligung von Frauen, inter, nicht-binären und trans Menschen für zukünftige Abstimmungen zu steigern und aufzuzeigen, dass der Feminismus Lösungen für die grossen Probleme unserer Welt bereit hat.

Abstimmungsresultate

Mehr erfahren zu den Abstimmungsthemen

Abstimmungsthema 1: Finanzierung des Kampfes gegen geschlechtsspezifische Gewalt
Ergebnis: Angenommen mit 96% Ja-Stimmen bei 4% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 2: Reform des Sexualstrafrechts
Ergebnis: Angenommen mit 98% Ja-Stimmen bei 2% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 3: Schutz von Frauen, inter, nicht-binären und trans Menschen auf der Flucht
Ergebnis: Angenommen mit 98% Ja-Stimmen bei 2% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 4: Für eine diskriminierungsfreie Bildung
Ergebnis: Angenommen mit 96% Ja-Stimmen bei 3% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 5: Ökologische Investition
Ergebnis: Angenommen mit 97% Ja-Stimmen bei 2% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 6: Verkürzung der Arbeitszeit
Ergebnis: Angenommen mit 93% Ja-Stimmen bei 5% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 7: Verfassungsrechtlichen Schutz
Ergebnis: Angenommen mit 85% Ja-Stimmen bei 5% Nein-Stimmen.

Abstimmungsthema 8: Schutz vor Diskriminierung
Ergebnis: Mit 97% Ja-Stimmen bei 2% Nein-Stimmen angenommen,

Mit einer überwältigenden Mehrheit für die Vorschläge der feministischen Task Force, aber auch mit der hohen Wahlbeteiligung, zeigt VOTE 71/21 nicht nur das Interesse an den angesprochenen Themen, sondern auch eine Dringlichkeit, sie im Bereich der Realpolitik zu behandeln.

Auf in eine feministische Demokratie!

Informationen zur Projektträgerin Les Creatives

Der Verein Les Créatives reflektiert über Fragen der Gleichberechtigung in der Gesellschaft durch künstlerische Darstellungen, Podiumsdiskussionen und spezifische Projekte. Der Verein unterstützt und fördert das Schaffen und die intellektuelle Produktion von Frauen, inter, nicht-binäre und trans Menschen, indem sie seit über 15 Jahren im November ein Festival organisieren. Der Verein arbeitet eng mit Frauen- und Feministischen Organisationen, der Universität Genf sowie mit einer Vielzahl von kulturellen Einrichtungen zusammen. Das Les Créatives Festival ist das erste Festival in der Schweiz, welches nur Frauen, inter, nicht-binäre und trans Menschen programmiert und sowie auch das erste feministische Festival. Les Créatives ist eine von Bundesbehörden (OFC, Pro Helvetia, EDA) unterstützte Organisation, die ein breites nationales Netzwerk aufgebaut hat. Sie ist eine rechtlich und politisch unabhängige Organisation und befindet sich im Prozess der Anerkennung als Organisation des öffentlichen Interesses.

Zur Autorin

Noemi Grütter arbeitet als Frauenrechts-und LGBTIQ Koordinatorin bei Amnesty International Schweiz sowie als Projektleiterin beim Festival Les Créatives. Sie ist ebenfalls Co-Präsidentin von Sexuelle Gesundheit Schweiz und im Vorstand von SAO für Frauen auf der Flucht. Sie hat ein Masterabschluss in Menschenrechten mit der Spezialisierung in Projektmanagement und Gender Studies.

Gemeinsam für eine gewaltfreie und gleichgestellte Gesellschaft

Am 25.11. starten die «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» seit 14 Jahren setzt sich die Präventionskampagne in der Schweiz für eine gewaltfreie Gesellschaft ein und fördert den Diskurs über Gewalt – ein wichtiger Bestandteil von Gewaltprävention.

Gewalt an Frauen kennt viele Formen. Sie wird in allen gesellschaftlichen Schichten ausgeübt, an unterschiedlichen Orten sowie in verschiedenen Konstellationen: zuhause, in Paarbeziehungen, in der Familie, in der Schule oder Ausbildung, am Arbeitsort, im öffentlichen Raum, in Institutionen oder online. Gewalt an Frauen hat massive Ausmasse. Es braucht ganzheitliche Ansätze, um diese Gewalt zu verhindern. Genügend finanzielle Mittel und Ressourcen für qualitativ hochstehende Angebote in Prävention, Beratung, Schutz und Täterarbeit sind elementar. Die Schweiz braucht mehr Schutzplätze für Frauen und Mädchen, die Gewalt erfahren. Betroffene müssen kompetent und einfühlsam begleitet und beraten werden. Die Schweiz verfügt grundsätzlich bereits über ein wichtiges völkerrechtliches Instrument zur Verhinderung von Gewalt: Die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung und Verhütung von Gewalt an Frauen und Häuslicher Gewalt, ist seit 2018 in Kraft und muss nun endlich konsequent umgesetzt werden.

Wir müssen aber noch breiter denken, denn geschlechtsspezifische Gewalt ist eng mit ungenügender Gleichstellung verknüpft. Deshalb ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich gegen Gewalt einzusetzen. Gerade in der Schweiz, wo Frauen erst seit 50 Jahren politische Mitsprache haben, gibt es auch 2021 noch viel zu tun. Frauen werden noch immer durch stereotype Vorstellungen abgewertet. Sexismus und Objektifizierung von Frauenkörpern sind Alltag. Dies ist der Nährboden für Gewalt an Frauen. Daran müssen wir arbeiten.

Stopp sexualisierte Gewalt

Die Präventionskampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» wird von der feministischen Friedensorganisation cfd koordiniert. Zwischen dem 25. November und 10. Dezember organisieren über 150 Organisationen mehr als 120 Veranstaltungen. Während der 16 Aktionstage wird Gewalt an Frauen in Podiumsdiskussionen, Theatern, Selbstverteidigungskursen, Workshops oder Strassenaktionen breit thematisiert.

Die Aktionstage haben jedes Jahr einen anderen Fokus. 2021 steht sexualisierte Gewalt im Zentrum. In der Schweiz hat mindestens jede zweite Frau sexualisierte Gewalt erlebt[1]. Nur 8% der Frauen, die Übergriffe erlebt haben, zeigen diese an[2]. Die Strafverfahren enden in 75% der Fälle mit einem Freispruch[3]. Hier zeigt sich exemplarisch, dass es ein Zusammenspiel von verschiedenen Aspekten zur Verhinderung von Gewalt braucht. So muss unser Sexualstrafrecht konsensbasiert überarbeitet werden nach der Maxime: Nur Ja heisst Ja. Sexuelle Handlungen bei fehlender Zustimmung müssen als Gewalt anerkannt und entsprechend geahndet werden. Die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung ist bereits Gewalt. Mit der Anpassung des Sexualstrafrechts allein ist es jedoch nicht getan. Polizist*innen müssen im Umgang mit Betroffenen von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt geschult werden, damit sie Befragungen opfersensibel durchführen können. Betroffene müssen Opferberatungsstellen kennen, damit sie schnelle und adäquate Unterstützung erhalten können. Es geht aber noch weiter. Es braucht nationale, breit angelegte Präventionskampagnen. Und wir müssen über Konsens und Gewalt sprechen – in der Familie, im Freundeskreis, in den Schulen. Nur so können wir sexualisierte Gewalt verhindern. Die Verantwortung liegt bei uns allen. Setzen wir uns gemeinsam ein für eine gewaltfreie und gleichgestellte Gesellschaft.

Zur Autorin

Anna-Béatrice Schmaltz arbeitet bei der feministischen Friedensorganisation cfd als Projektleiterin Gewaltprävention und koordiniert die «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Sie hat einen Masterabschluss in Sozialer Arbeit und ist feministische Aktivistin.

Mehr Infos zu den 16 Aktionstagen: 16tage.ch

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[1] Studie «sexuelle Gewalt», 2019. Gfs.bern. https://www.amnesty.ch/fr/themes/droits-des-femmes/violence-sexuelle/docs/2019/violences-sexuelles-en-suisse/sexuelle_gewalt_amnesty_international_gfs-bericht.pdf  

[2] https://cockpit.gfsbern.ch/de/cockpit/sexuelle-gewalt-in-der-schweiz/

[3] https://www.tagesanzeiger.ch/beschuldigten-vergewaltigern-drohen-in-zuerich-kaum-konsequenzen-539945354487

Neues Lernmodul Geschlechtergerechtigkeit

Die Konstante Geschlecht, ihre Implikationen und der Austausch darüber darf im Klassenzimmer nicht zu kurz kommen. Im Zeichen des Jubiläumsjahres des Frauenstimmrechts entwickelte eine Gruppe von frisch ausgebildeten Demokratiebausteintrainerinnen deshalb zusammen mit der Demokrative ein neues Modul zum Thema Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie in der Schweiz. Das Projekt wurde Ende Oktober erfolgreich beendet und in das reguläre Angebot der Demokratiebausteine aufgenommen.

Demokratiebausteine sind ein Projekt der politischen Bildung. Die Lernmodule werden von ausgebildeten Trainer*innen angeleitet und umfassen unterschiedliche didaktische Ansätze zur Vermittlung von demokratischen Grundsätzen und (Werte-) Kontroversen. Die interaktive Didaktik bietet Gelegenheit, politisches Handeln zu üben und zeichnet sich durch ihre politikwissenschaftliche Fundiertheit und ihre Verankerung in Prinzipien der Bildung für Nachhaltige Entwicklung und der politischen Bildung aus. Alle Module und Übungsmaterialien der Demokratiebausteine vermitteln Fachwissen und beziehen unterschiedliche Standpunkte im Fachdiskurs ein.

In Ergänzung zu zahlreichen bestehenden Bildungsangeboten liegt der Schwerpunkt des neuen Moduls auf der Aktualität und stärkt die Handlungsfähigkeit zur Gestaltung der Zukunft: die bestehende verfassungsrechtliche Lage der Gleichstellung der Geschlechter wird im Hinblick auf die Umsetzung in Gesellschaft und politischem System analysiert; Wertekonflikte werden sicht- und erlebbar gemacht und Teilnehmende werden befähigt, nicht nur die Handlungsnotwendigkeit, sondern auch ihre Handlungsmöglichkeiten für eine Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter zu erkennen.

Lernziele des neuen Moduls sind zwei für die Demokratie zentrale Fragen der Gleichstellung der Geschlechter. Zum einen: Welche Rolle spielt die aktuell ungleiche Vertretung von Frauen in vielen, auch politischen, Entscheidungspositionen für die Gleichstellung der Geschlechter in unserer Demokratie? Zum anderen: Wie könnte der Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung (noch besser) verwirklicht werden und welche möglichen Massnahmen entsprechen meinen Wertepräferenzen?

Das neue Modul wurde im September dieses Jahres an der Kanti Stadelhofen, sowie an der Primar Muttenz in einer sechsten Klasse getestet. Eigentlich war zu Beginn der Modulentwicklung nur die Erstellung des Moduls für die Sek II Stufe geplant. Der Aufwand für die Anpassung der gesamten Materialien an die Primarstufe wurde geleistet, da der Entwicklungsprozess die günstige Gelegenheit bot, das Modul möglichst breit aufzustellen und das Angebot zu erweitern. Demokratieprozesse können nicht früh genug vermittelt werden.  Dank der Anpassung der Materialien an die Primarstufe, kann eine neue Zielgruppe erreicht und ein wichtiger Beitrag zur Vermittlung des Verhältnisses von Geschlecht und Demokratie geleistet werden.

Ein herzliches Dankeschön geht an die Stiftung für staatsbürgerliche Erziehung und Schulung, welche das Team mit einem finanziellen Beitrag bei der Entwicklung unterstützt hat.

Zur Autorin:

Sarah Preiswerk ist ausgebildete Demokratiebausteintrainerin und initiierte die Entwicklung des Moduls Geschlechtergerechtigkeit. 2021 hat sie den BA in Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Basel abgeschlossen.

Weiter Informationen zum Verein auf: www.demokrative.ch, www.demokratiebausteine.ch

Die Frauen im Parlament

Vor gut zwei Jahren habe ich mich entschlossen, den Wegen der ersten Frauen im eidgenössischen Parlament nachzugehen. Zuvor hatte ich die Geschichte des Luzerner Grossen Rates erforscht und meinte zu wissen, worauf ich mich einliess… Nicht so sehr die Unwegbarkeiten für Forschende in der Coronakrise, als vielmehr meine emotionale Betroffenheit durch die eigene politische Biografie, haben mich überrascht.

Als Wissenschaftlerin war ich in meinem Vorhaben zu grösstmöglicher Distanz und Neutralität verpflichtet. Meine persönliche Erfahrung in den verschiedensten Rollen des politischen Betriebes von 1990–2011* riefen in mir gleichzeitig starke Empathie für das zu untersuchende Kollektiv hervor, was mich zu kritischer Innenschau bzw. Selbstreflexion führte.

Mein Buch stellt zunächst die eigentlichen Pionierinnen der 39. und 40. Legislatur in den Vordergrund und untersucht danach das ganze Kollektiv der 257 Nationalrätinnen und 42 Ständerätinnen der 13 Legislaturen von 1971 bis 2019.

Eingehend widmete ich mich den Politlaufbahnen der Parlamentarierinnen, deren Bildung, Wirken in den Parteien, dem Kampf um Akzeptanz und Einfluss. Ich suchte nach allgemeinen Mustern und individuell interessanten Wegen. Auch untersuchte ich wichtige Aspekte wie das Verhältnis der Frauen zur eigenen Partei und weibliche Netzwerke.

Im Rückblick zeigt sich die Schweiz von 1971, als ein fernes, „fremdes“ Land, in dem die ersten 11 Bundesparlamentarierinnen einen eher lauen Empfang bekamen und lange eine kleine Minderheit blieben. Auf sie wartete unglaublich viel Arbeit in grundlegenden Dossiers, insbesondere solchen, welche das Männerparlament vor sich hingeschoben hatte. Es galt aufzuräumen mit alten Zöpfen und dem modernen Leben, das ausserhalb der Mauern des Bundeshauses längst begonnen hatte, Rechnung zu tragen. Die Erfordernisse der sich stark verändernden Gesellschaft mussten in neue rechtliche Formen gegossen werden. Die Gleichstellung der Frauen war längst überfällig. Dies Männern und Frauen zu erklären und selbst, oft gegen die eigene Prägung durch eine traditionelle Erziehung, zu leben, war ein weiterer Schritt für die Pionierinnen. Die letzten 50 Jahre wurden frauenpolitisch zu einer langen Challenge, um dies neudeutsch auszudrücken. Die National- und Ständerätinnen haben diese stets mutig gepackt. Der Kreis ihrer Verbündeten war dabei unverzichtbar. Er ist mit Niederlagen wie Erfolgen gewachsen und hat heute – wie die jüngsten Frauenstreiks und der gesellschaftliche Diskurs zeigen -weite Teile der Gesellschaft erreicht. Damit ist jedoch eine wirkungsvolle Umsetzung der Gleichstellung noch keineswegs garantiert. Es bleibt spannend.

Die Autorin:

Luzerner Historikerin, ehemalige SP-Grossbürgerrätin, Kantonsrätin, Parteisekretärin und politische Beraterin sowie seit 2011 Inhaberin von Büro für Politik, Text & Coaching, www.margrit-steinhauser.ch.

Initiative Frauenstimmen: Was bedeutet es für Frauen in der Schweiz, eine Stimme zu haben?

Wenn wir auf 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz zurückblicken, so tun wir dies unabdingbar aus zwei unterschiedlichen Sichtweisen. Wir zelebrieren zu Recht, was sich verbessert hat – und die Menschen, die dazu beigetragen haben. Aber wir betrachten auch all jene offenen Punkte, die sich über ein halbes Jahrhundert hinweg nur langsam oder gar nicht verändert haben, und die es noch zu verbessern gilt. Dadurch schauen wir nicht nur zurück, sondern auch nach vorne. Die Initiative Frauenstimmen widmet sich diesen unterschiedlichen Perspektiven und verschafft ihnen einen sprachwissenschaftlichen Fokus.

Die Initiative, am Center for the Study of Language and Society (CSLS) der Universität Bern angesiedelt, widmet sich einer scheinbar simplen Beobachtung: Frauenstimmrecht bedeutet noch lange nicht, dass Frauenstimmen auch gehört werden.

Daraus ergeben sich aber unzählige Fragen. Auf welche Weise werden Frauenstimmen nicht – oder weniger, oder anders – wahrgenommen? Weshalb ist das so? Und was bedeutet es überhaupt, gehört zu werden? Was bedeutet es, eine Stimme zu haben?

Die Initiative Frauenstimmen ist seit Mitte Juli auf Instagram und Facebook unter dem Namen @womensvoices.ch aktiv und bietet Einblicke in die sprachwissenschaftliche Forschung zu Gender, Sexismus und Gleichstellung. Wir schauen uns an, wie Sprache zur Erhaltung von Stereotypen, Geschlechterrollen und Diskriminierung beiträgt, aber auch wie Sprache die Gesellschaft zu verändern vermag.

Die Beziehung zwischen Sprache und Geschlecht lässt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen untersuchen. Etwa im Sprechverhalten: In einer amerikanischen Studie (die passenderweise 50 Jahre alt ist), haben Candace West und Don Zimmermann beispielsweise Zweiergespräche zwischen Frauen und Männern beobachtet und gezählt, wer wie oft unterbrochen wurde. 96 Prozent aller Unterbrechungen kamen vom männlichen Gesprächspartner aus! Die Situation mag sich verbessert haben, aber noch heute beläuft sich in vergleichbaren Studien der männliche Anteil an Unterbrechungen auf rund 80 Prozent.

Dies hat damit zu tun, dass wir von klein auf dazu sozialisiert werden zu glauben, dass Gesprächsbeiträge von Männern gewichtiger sind als jene von Frauen – und sich die Geschlechter oft auch danach verhalten. Alecia Carter berichtete 2018, dass Wortmeldungen an Universitätsvorlesungen europaweit zu über 70 Prozent von Männern stammen. Und wenn Frauen Durchsetzungsvermögen zeigen oder sich stärker in Diskussionen einbringen? Dann werden sie als ‘aggressiv’ oder als ‘Plaudertaschen’ abgestempelt.

Problematisch ist auch der Sprachgebrauch, also welche Wörter wir für Männer und Frauen brauchen. So haben aus historischer Sicht viele Bezeichnungen für Frauen eine Verschlechterung in ihrer Bedeutung erfahren. Im Althochdeutschen war ein ‘Wib’ (heute: Weib) einfach eine Frau, die ‘Frouwa’ (heute: Frau) war adelig – und die ‘Diorna’ (heute: Dirne) bezeichnete lediglich ein junges Mädchen.

Selbst auf einer strukturellen Ebene reflektiert Sprache oft eine sexistische Weltsicht, indem sie Männer als Norm und Frauen als Sonderfall behandelt. Ein Pilot und zwei Pilotinnen? Das sind – der Einfachheit zuliebe – meistens einfach drei Piloten. Und eine Frauschaft anstelle einer Mannschaft rutscht vielen noch nur schwer über die Zunge. Durch solche sprachlichen Barrieren sind Frauen nach wie vor weniger sichtbar und weniger hörbar.

Am CSLS sind wir überzeugt, dass ein besseres Verständnis des Zusammenspiels zwischen Sprache und Gesellschaft ein zentrales Element in der Bekämpfung sozialer Ungleichheit darstellt. Und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung ist Zuhören.

Die Initiative Frauenstimmen ruft ihre Follower*innen im September dazu auf, ihre Stimmen mit uns zu teilen – in Form von Kommentaren oder Videobotschaften auf Instagram und Facebook. Wir möchten wissen, was es für Frauen* in der Schweiz bedeutet, eine Stimme zu haben. Wozu sie ihre Stimmen nutzen. Und was es braucht, damit ihre Stimmen endlich von allen als gleichberechtigt wahrgenommen werden.

Denn am besten feiern wir die Schweizer Pionierinnen der Gleichberechtigung, indem wir allen eine ebenbürtige Stimme verschaffen.

Mehr Informationen zur Initiative und unserem Aufruf unter: www.womensvoices.ch

Der Autor:

Christoph Neuenschwander ist Forscher am Center for the Study of Langauge and Society und Koordinator der Master- und Doktoratsprogramme in Soziolinguistik. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit beschäftigt er sich hauptsächlich mit Sprachwahrnehmung und Ideologien, Diskriminierung und der diskursiven Produktion von Gender. In der Initiative Frauenstimmen arbeitet er zusammen mit Ella Spadaro, Erez Levon, Mathis Wetzel, Melissa Guglielmo und Olivia Schär.

Was sich in 50 Jahren alles ändern kann…

Nein, ich war weder glücklich noch froh über die Einführung des Frauenstimmrechts, damals vor 50 Jahren. Zwei kleine Kinder und der Haushalt forderten mich voll und ganz. Zudem war ich noch absolut verhaftet in der Vorstellung, als Hausfrau und Mutter müsste ich mindestens perfekt sein.

Wie sollte ich mir da eine weitere Herausforderung wünschen? Abstimmen und Wählen – welche Verantwortung! Die Wichtigkeit dieses Privilegs prägte sich mir in der Kindheit tief ein. Mein Vater hielt seine Entscheidungen in dieser Sache immer strikt geheim. Niemand, gewiss auch nicht meine Mutter, durfte da Bescheid wissen und ihn politisch einordnen. Er fühlte die Gefahr, seine Freiheit und Stellung in der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen! Und ob Frauen für diese Verantwortung geeignet wären? Klar geäussert hat er sich nie dazu, aber Schweigen sagt oft mehr als viele Worte. Wie wohl meine Mutter dazu stand? Heute weiss ich, es gab viele Dinge, an denen sie interessiert war. Aber auch sie hielt sich während ihrer Ehe strikt an das unumstössliche Gesetz der Rolle einer traditionellen Ehefrau. Eine drei- und vierfache Belastung gehörte halt dazu! Mein Interesse an der Politik und dem Weltgeschehen war aber gross. Das Radio spielte dabei eine wichtige Rolle. Zuhören konnten uns die Männer ja nicht verbieten und auf die Nachrichten und das ‘Echo der Zeit’ wollten sie nicht verzichten. Das waren wichtige Quellen, wo sonst hätten sie sich informieren können? Und wir hörten mit.

Die stolze Darstellung der Schweiz als älteste Demokratie hinterfragte ich erst später. Noch heute ärgere ich mich, dass über diese Formulierung weder gesprochen noch ihr widersprochen wird.

Wie schlimm fand ich es im Geschichtsunterricht, dass früher die Männer der Landbevölkerung nicht mitbestimmen durften. Aber dass dies für alle Frauen ebenso und noch Jahrhunderte später immer noch galt, sah ich damals nicht.

Erst die Warum-Fragen meiner Kinder liessen mich erkennen, dass auch ich Fragen stellen durfte und das Hinterfragen gar eine Notwendigkeit für mein weiteres Dasein schuf. Schritt für Schritt fand ich den Weg zum eigenen Denken! Hinter der weichgespülten, angepassten Frau entdeckte ich meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Weg von den traditionellen Strukturen und dem gängigen Denken und Handeln. Der Wandel hin zur Eigenständigkeit verlief erfolgreich. Ich  bezeichne mich heute als emanzipierte Frau und Feministin. Als eine der Gründerinnen der feministischen fakultät blicke ich mit Stolz auf unsere erfolgreichen feministischen Lehrgänge und weitere Angebote. Das Interesse an feministischen Themen wächst. Frauen* spüren, dass etwas fehlt und sind bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Sie wollen Hinaus aus der Beschneidung unserer Ansprüche und Begehrlichkeiten. Eine nächste Gelegenheit bietet der 5. feministische Lehrgang, der eben ausgeschrieben wurde.

Dass sie damit im Recht sind zeigt z.B. die Diskussion um Quoten für Frauen in verschiedenen Bereichen. Die Abneigung überwiegt noch immer. Dass die Schweiz nur Quotenbundesräte kennt ist kein Thema. Jeder Landesteil, die Kantone und die Parteizugehörigkeit müssen unbestritten in gebührendem Masse berücksichtigt werden! Damit sind die Voraussetzungen für Männer gesetzt, politisches Geschick eine Nebensache. Führten diese Parameter zur Auslese der Besten? Mein Fragezeichen ist gross.

Das Fehlen der Frauen in der Politik ist so alt wie die Idee der Demokratie. Diese politische Ordnung wurde von alten griechischen und freien Männern mit Erfolg geschaffen. Noch immer finde ich demokratische Werte und Strukturen die beste Form, wie ein Zusammenleben verschiedener Menschen geregelt werden kann. Der Wortteil Demo hat sich mir als etwas Positives eingeprägt. Anders geht es mir mit kratie – dagegen spürte ich immer einen Widerstand. Zeit, diesem Gefühl nachzugehen. Bei Wikipedia und Co. fand Folgendes:

Demos (griechisch δῆμος dēmos, meist als „Staatsvolk„) aufgefasst, im Gegensatz zu ἔθνος éthnos „Volk“. Auch ohne Stimm- und Wahlrecht betrachtete ich mich als Schweizerin, also dem Staatsvolk zugehörig. Darin fühlte ich mich sicher und aufgehoben.

Kratos (griechisch Κράτος, Macht, Stärke) ist in der griechischen Mythologie die Personifikation der Macht und rohen Gewalt. Bei Hyginus wird er mit lateinischem Namen Potestas genannt. Bezeichnet heute Herrschaftsformen, politische Ordnungen oder politische Systeme, bei denen Macht und Regierung vom Volk ausgehen (Volksherrschaften).

Und da ist er wieder, der Begriff HERRschaft! Es waren einige wenige, freie und ausgesuchte Männer, die in einem elitären Kreis nach einer ihnen gefälligen Regierungsform suchten. Zwischen ihnen und den Frauenmenschen sowie den Sklavenmenschen bestand eine Trennlinie. Soweit uns bekannt ist, wurde diese Art Mensch weder in die Diskussion einbezogen noch wurde ihrem Dasein und ihren Bedürfnissen eine Bedeutung für den Staat und seine Funktion beigemessen. Ich würde sagen, diese alten Philosophen waren Sexisten und Vertreter eines Kastendenkens. Und mit diesen Bewusstseinslücken schufen sie – eben – die Demokratie.

Ich plädiere für ein neues Wortbild, in welchem alle Bewohnerinnen* eines Staates angesprochen werden. Schluss mit dem Mann als Massstab, an dem alles gemessen wird. Wie wäre es, wenn Frauen (und Männer?) im Jahr des 50jährigen Stimm- und Wahlrechts lustvoll und kreativ einen neuen Begriff in das patriarchale Sprachnetz einbringen würden?

Über Erika Bachmann

  • Langjährige überzeugte Feministin, Absolventin des European Women’s College, Zürich
  • Co-Initiatorin der fem! Ehrenmitglied auf Lebenszeit