Die Männer waren das Nadelöhr

Warum stimmten zwei Drittel des Männervolks 1959 gegen das Frauenstimmrecht? Wie erklärt es sich, dass zwölf Jahre später zwei Drittel der Männer dafür waren? Das sind die beiden Schlüsselfragen, um für den Schweizer Sonderfall eine Erklärung zu finden. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kannten auch andere europäischen Länder, insbesondere die drei katholischen Frankreich (1944), Italien (1946) und Belgien (1948), kein Frauenstimmrecht. Der Sonderfall beginnt gleich danach. Dazu gehörten noch eine faschistische Diktatur (Portugal, 1974) und ein reaktionäres Fürstentum (Lichtenstein, 1984).

Regression zwischen 1929 und 1959

Die Frage nach dem eidgenössischen Sonderfall wird noch schärfer angesichts der Tatsache, dass die Schweiz 1929 dem Frauenstimmrecht näher stand als 1959. 1929 kamen für eine von 13 Frauenverbänden gestartete und den beiden Linksparteien unterstützte Petition 250‘000 Unterschriften zusammen. Das entspräche heute 600‘000 Unterschriften. Gut 170‘000 Frauen und knapp 80‘000 Männer hatten unterschrieben. Das Frauenstimmrecht dürfte zwar auch 1929 an einer Mehrheit der Stimmen und erst recht der Stände gescheitert sein. Aber das Resultat wäre nicht so katastrophal ausgefallen wie dreissig Jahre später.

Was ist in der Zwischenzeit passiert? Eine erste Regression bedeutete die Infragestellung der weiblichen Berufstätigkeit in den 1930er Jahren. So führten die Katholisch-Konservativen eine Kampagne gegen das „Doppelverdienertum“ durch. Jungkonservative wollten den Frauen die ausserhäusliche Arbeit völlig verbieten. Der Katholische Frauenbund, der selber das Frauenstimmrecht ablehnte, war über die eigene Parteijugend derart entsetzt, dass er sie mit den „Herrenmenschen Mussolinis“ und „Hitler-Deutschland“ verglich. Aber etliche der Jungen der 1930er Jahre waren die Politiker der 1950er Jahre.

Während des Krieges wurde die faktisch gestiegene Berufstätigkeit der Frauen statistisch unterschlagen. Diese fand vor allem in karitativen Bereichen und in der Landwirtschaft statt oder war Teilzeitarbeit. Die Basler Historikerin Regina Wecker verbindet die Verschleierung der weiblichen Leistungen und die Überbetonung der männlichen mit der Verschleierung der „Nützlichkeit für den Gegner“ und der Überbetonung der militärischen „Abwehr gegen den Feind“. Der Rückzug ins Reduit, der aus dem meisten Grenzsoldaten wieder Arbeiter und Angestellte machte, diente nicht zuletzt der „Aufrechterhaltung der (Geschlechter-)Ordnung“. Ein „stärkerer“ und damit „sichtbarerer Einbezug von Frauen in die marktorientierte Wirtschaft hätte sowohl die männliche Hegemonie gefährdet, als auch die Siegerpose der Armee unglaubwürdig gemacht.“

Wehrmann und Hausfrau

Die Lebenslüge der Nachkriegs-Schweiz, sie verdanke ihre Verschonung primär der militärischen Abwehrbereitschaft und nicht der wirtschaftlichen Kollaboration, hängt eng mit der verschärften Ausgrenzung der Frauen zusammen. Zudem erlaubte es das Reduit, die Einheit von Männer-Staat und Männer-Heer und den Gegensatz von Wehrmann und Hausfrau im Kalten Krieg zu reaktivieren.

Der Bundesrat brachte diese Geschlechtertrennung 1958 in seiner Botschaft zum Frauenstimmrecht auf den Punkt: „Das Stimmrecht wird als Korrelat der Wehrpflicht aufgefasst.“ Unter Verweis auf die Landsgemeinde schreibt er weiter: „An ihr konnte nämlich nur der waffenfähige Bürger mitreden. Da als waffenfähig der Mann allein galt, konnte nur er als stimm- und wahlberechtigt angesehen werden.“ Diese Ideologie, die ein fester Bestandteil der Geistigen Landesverteidigung war, war in der Romandie viel schwächer verankert. Hier liegt die Haupterklärung für die Ja-Mehrheiten in den Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg.

Neben dem grossen Röstigraben gab es einen – allerdings kleineren – Konfessionsgraben. Bei einem durchschnittlichen Ja-Anteil von 33,1 Prozent lag der protestantische bei gut 37% und der katholische bei etwa 25%. Bei den Katholiken, deren Kirche selbst in den Städten immer noch im Dorf stand, wirkte das, was der nationalrätliche Hauptsprecher gegen das Frauenstimmrecht so formulierte: „Der männliche Priesterstand schliesst in allen Graden und Funktionen die Frau aus“.

Krise von Militarismus und Männlichkeit

Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erfahren sowohl der Militarismus als auch der Klerikalismus eine Aufweichung. Es ist kein Zufall, nimmt die Zahl der Militärverweigerer zwischen 1966 und 1971 ebenso spektakulär zu wie die der männlichen Frauenstimmrechtsbefürworter. Die Zahl der Verweigerer wuchs von 40 (1965) auf 122 (1966) und steigerte sich bis 1971 auf 227. Wie dramatisch die Erosion der Einheit von Bürgersoldat und Männlichkeit war, zeigen die zahllosen Konflikte um die Haarlänge im Militär und im Zivilen. Lange Haare waren der doppelte Beweis für eine unmilitärisch-weibliche Haltung und für eine armeekritische Einstellung. Die Schweizer Männer wurden reif für das Frauenstimmrecht, als sie begannen, längere Haare zu tragen. Gemäss bundesrätlicher Einschätzung vom Sommer 1969 seien „bei den Jungen wohl 90% oder noch mehr für das Frauenstimmrecht“.

Innerhalb des Katholizismus kam es zwar nicht zur kirchlichen Gleichberechtigung der Frauen, aber zu einer allgemeinen Liberalisierung. Und diese fand ihren stärksten Ausdruck in der Stimmrechtsfrage. Der Ja-Anteil der katholischen Männer stieg zwischen 1959 und 1971 von 25% auf gut 60%. Damit lag er immer noch unter dem Durchschnitt von 65,7%, aber der konfessionelle Graben war kleiner geworden. Immer noch gross war der Sprachengraben. Lag der Ja-Anteil 1971 in der Romandie deutlich über 80 Prozent, gelangte in der Deutschschweiz nur Baselstadt auf diese Höhe.

Für den spektakulären Ja-Sprung von 33,1 Prozent auf 65,7 Prozent innert zwölf Jahren werden auch andere Erklärungen vorgebracht. Die am stärksten verbreitete ist gleichzeitig die falscheste: die Modernisierung von Haushalt und Arbeit. Die weibliche Berufstätigkeit war seit den 1880er Jahren nie so tief wie 1971. Sie betrug bloss 28 Prozent, obwohl die Ausländerinnen, die zur drei Vierteln berufstätig waren, den Durchschnitt anhoben. Wer das deutliche Ja zum Frauenstimmrecht 1971 mit strukturellen Veränderungen in der Frauenwelt erklärt, ist daran zu erinnern, dass die meisten Frauen bereits in den 1950er, wahrscheinlich schon in den späten 1920er Jahren für das Frauenstimmrecht waren. Das „Nadelöhr“ für das Frauenstimmrecht bildeten, wie das Peter von Roten, der Ehemann der „Laufgitter“-Autorin Iris von Roten, schon in den 1950er Jahren betont hat, die Männer.

Über Josef Lang:

Josef Lang, alt Nationalrat, Historiker, Dr. Phil. Er veröffentlichte im Mai 2020 das Buch „Demokratie in der Schweiz“ (Verlag Hier und Jetzt), das dem Kampf um das Frauenstimmrecht breiten Platz einräumt.