Die Verweigerung des Frauenstimmrechts – zur Bedeutung der Einsicht in historisches Unrecht
Das Wissen über die Vergangenheit ist für das Verständnis der Gegenwart unabdingbar. Diese Einsicht ist inzwischen für viele selbstverständlich. Schliesslich wirkt die Vergangenheit in der Gegenwart nach und beeinflusst, was in ihr denk-, sag- und lebbar ist. Weniger selbstverständlich scheint noch immer die Erkenntnis, dass auch vergangenes Unrecht die Gegenwart prägt, sich gar in ihr fortsetzt und dies umso mehr, wenn es nicht als solches erkannt und anerkannt ist. Doch die Einsicht in historisches Unrecht ist für die Überwindung des Bestehenden unerlässlich.
Die Herausbildung einer nationalen Identität findet bis heute jedoch vor allem in Form eines positiven Selbstbildes statt – die Schweiz ist da keine Ausnahme. Dies hat sich an der Verdrängung begangenen Unrechts in der eigenen Kolonialgeschichte sowie im Zuge des zweiten Weltkriegs gezeigt oder am langen Schweigen über das Unrecht an den ‘Verdingkindern’. All dies als Unrecht anerkannt, würde erfordern, eine andere, neue Geschichte der Schweiz zu erzählen, eine, die nicht nur von Stolz über die eigenen (männlichen) Taten und Errungenschaften geprägt ist, die vielmehr auch über das Unrecht spricht, das getan wurde und bis heute fortwirkt. Zudem gälte es, das beharrliche Bedürfnis nach positiver Selbstinszenierung kritisch zu reflektieren. Ein solcher Schritt würde allerdings die Fähigkeit fördern, nicht nur das Nachwirken vergangenen Unrechts zu erkennen, sondern auch gegenwärtiges.
Auch in der aktuellen Diskussion, ob die Verweigerung des Frauenstimmrechts nun Unrecht war oder nicht, überwiegt das Bedürfnis, die letztendliche Zustimmung – wenn überhaupt – positiv als einen Akt der Gerechtigkeit zu bezeichnen. Schwer fällt es noch immer anzuerkennen, dass die Verweigerung ein Verstoss gegen die Gerechtigkeit, also ungerecht, ja möglicherweise gar Unrecht war. Noch immer überwiegt das Bedürfnis bei vielen Männern* nach Abwehr von Verantwortung.
„Die Verhältnisse waren damals halt so!“ gehört zu den dominierenden Sätzen. Doch sich dem Zeitgeist zu fügen, macht Unrecht verständlicher, aber nicht rechtens. Zudem, haben bislang nicht vor allem Männer* die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt? Das ist, so Roger Köppel, „der Irrtum des Jahrhunderts“. Im Gegenteil, „Frauen regieren die Welt“ (Die Weltwoche NZZ 11.02.21). Sie selbst haben deshalb das Stimmrecht auch gar nicht gewollt. Die vielen Frauen, die über Jahrzehnte immer wieder erneut für das Stimmrecht gekämpft haben, diesem Kampf teilweise ihr ganzes Leben gewidmet haben, zählen für Köppel nicht. Die Aussage seiner Mutter ist ausreichender Beweis. Sicherlich ist dies nicht ganz ernst gemeint, oder doch?
Symptomatisch ist diese Argumentation trotz allem: Noch immer besteht bei vielen Männern* kein Unrechtsbewusstsein. Dass den Frauen* durch die Verweigerung des Stimmrechts Unrecht angetan wurde, weisen sie weiterhin zurück. – Allerdings werden die, die das Unrecht anerkennen, stetig mehr.
Dass es Unrecht war, war erkennbar, wenn man(n) es wollte. So entstand zeitgleich mit der Formulierung der Menschenrechte eine Fülle an Texten, in denen mit grossem Aufwand nicht nur eine natürliche Überlegenheit der Männer* behauptet, sondern auch mit der angeblichen Minderwertigkeit der Frauen* ihr Ausschluss aus den Menschen- und Bürgerrechten legitimiert wurde. Schon die Vielzahl der Texte hätte stutzig machen können. Allemal zeigt es, schon damals bedurfte es der ausführlichen Rechtfertigung, Frauen aber auch andere Menschen wie Schwarze oder Indigene nicht als gleichwertige Menschen anzuerkennen und ihnen daher gleiche Rechte zu verweigern. Massstab für ihre angebliche Minderwertigkeit war der bürgerliche weisse heterosexuelle Mann. Nicht umsonst ist in vielen Sprachen das Wort Mann und Mensch identisch.
Selbst noch in der Botschaft des Bundesrates von 1957 findet sich diese Logik. So wird betont, „nur Gleiches muss nach dem Prinzip der Rechtsgleichheit gleich, Ungleiches muss aber ungleich behandelt werden“ (ebd.:767f.). Inzwischen zeigt sich allerdings, wird festgestellt, dass die zuvor erheblichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufgrund der zunehmenden Bildung von Frauen*, ihrer Erwerbstätigkeit und ihren öffentlichen Tätigkeiten nicht mehr bestehen. Eine Ungleichbehandlung der Frauen* lässt sich daher nicht mehr rechtfertigen. Das heisst: eine weitere Verweigerung verstösst nun vielmehr gegen das Prinzip der Rechtsgleichheit und ist nun rechtlich gesehen Unrecht. Massstab, so wird deutlich, für die Bestimmung der Gleichwertigkeit der Frau* ist der Mann*, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten. Die grundlegende Entwertung sogenannter typisch weiblicher Sorgetätigkeiten, wie sie mit der bürgerlich patriarchalen Geschlechterordnung verbunden ist, setzt sich selbst in der Botschaft des Bundesrates fort. Obwohl gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten gelten sie am männlichen Massstab gemessen nicht als gleichwertig und genügen daher nicht, um Frauen* als gleichwertige Menschen mit gleichen Rechten anzuerkennen. Sie müssen vielmehr den Männern* ähnlich werden, ihnen gleich werden, um gleiche Rechte zu erwerben. Erst dann ist die Einführung des Frauenstimmrechtes ein Gebot sowohl der Rechtsgleichheit als auch der Gerechtigkeit und der Demokratie ist (ebd. 767). Und dies im Übrigen selbst dann, wird betont, wenn die Frauen das Stimmrecht selbst nicht wollten.
Wie zu Beginn angesprochen: Die Anerkennung historischen Unrechts ist unerlässlich, nicht nur um das Fortwirken des Unrechts in der Gegenwart zu erkennen, sondern auch seine innere Logik. So wird deutlich, die tatsächliche Gleichstellung der Frauen* und damit die Überwindung jeglicher Form der Diskriminierung von Frauen* wird nur erreicht, wenn diese herrschende Logik durchbrochen wird, nach der nur Menschen, die als Gleiche (im Sinne von identisch) angesehen werden, als Menschen mit gleichen Rechten anerkannt werden. Die Herstellung tatsächlicher Gleichstellung der Frauen*, aber auch der Menschen überhaupt bedarf vielmehr einer nicht-hierarchisierenden Anerkennung in ihrer jeweiligen Verschiedenheit.1