Warum dauert das denn so lange?

Ich bin zehn Jahre älter als das Frauenstimmrecht. Wenn ich auf die letzten Jahrzehnte zurückblicke, dann bin ich erstaunt, wie viel sich verändert hat. Männer mit längeren Haaren sind kein Thema mehr, offiziell sind alle für Gleichberechtigung. Viele junge Menschen denken heute auch viel weniger in Geschlechterkategorien wie wir damals und mittlerweile gibt es doch einige Frauen mit guten Professuren, auf Richterstühlen und im Bundesrat. Ja selbst in den Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten wichtiger Firmen werden Frauen langsam wahrnehmbar. Es scheint also vorwärts zu gehen.

Dieser Eindruck trügt, denn in der Volksschule gibt es immer noch, Stundenpläne wie zur Zeit meiner Kindheit als die Schweiz noch ein Land der Hausfrauen war. Nach über dreissig Jahren rot-grünem Zürich versucht der Stadtrat nächstes Jahr endlich Tagesschulen einzuführen. Warum dauert das denn so lange?! Bei mir im Dorf in der Nähe von St. Gallen gibt es seit einem halben Jahr die erste Tagesbetreuung für Schüler, ich glaube, eine Kinderkrippe für Vorschulkinder gibt es bei uns immer noch nicht.

So viel Stillstand kann nicht einmal mit einer Schnecke richtig symbolisiert werden. Bei uns sind tatsächlich die Gletscher schneller geschmolzen als dass sich die Strukturen für Familien mit Kindern geändert hätten. Meine Mutter musste meinen Vater noch um Erlaubnis fragen, wenn sie eine Aushilfsstelle annehmen wollte, (natürlich war er dagegen), die Mütter heute müssen zwar ihren Ehemann nicht mehr um Erlaubnis bitten, aber sie können meist dennoch keine richtige Stelle annehmen, weil es vielerorts immer noch keine ausreichenden Kinderbetreuungsangebote gibt. Und wenn es welche gibt, sind sie oft so teuer, dass sich die Erwerbsarbeit kaum lohnt. Diese Dinge ändern sich nie, wenn wir nicht klaren Druck aufsetzen. Eine Frau in einen Verwaltungsrat zu wählen kostet nichts, aber familienfreundliche Strukturen einzuführen, ist mit Aufwand verbunden, auch mit finanziellem.

Drei Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag durfte ich zum ersten Mal abstimmen. Es ging um die Volksinitiative zur Gleichstellung von Frau und Mann. Ich habe mich damals nicht gefragt, wozu es für eine derartige Selbstverständlichkeit eine Volksabstimmung gebraucht hatte, aber ich war überzeugt, dass ich auf jeden Fall meine Stimme als frischgebackene Staatsbürgerin abgeben wollte. Als ich an jenem Abstimmungssonntag aufstehen und zur Urne gehen wollte, war mir derart speiübel und ich hatte so starke Menstruationsschmerzen, dass ich am liebsten im Bett geblieben wäre. Ich ließ mich dann aber von dieser Ironie des Schicksals nicht abhalten und habe kreideweiss meine Stimme für die Gleichberechtigung abgegeben, wohlwissend, dass mir auch im besten Fall meine monatlichen Bauchschmerzen bis zum Klimakterium bleiben würden. Die Stimmbeteiligung betrug damals rund 34% und von diesen stimmten 60% für den Gleichstellungsartikel, immerhin.

Schon damals war die Gleichberechtigung kein grosses politisches Thema. Der damals federführende Bundesrat Kurt Furgler erwähnte drei Monate vor der Volksabstimmung in einem mehr als einstündigen Fernsehinterview über Politik und die Schweiz die bevorstehende Abstimmung zur Gleichstellung von Mann und Frau mit keinem Wort.

Mir scheint, dass genau hier der wunde Punkt in der Gleichstellungsthematik liegt. Solange wir nicht darüber reden, wird sich auch nichts wirklich ändern. Gleichberechtigung darf man nicht beschweigen und nicht für selbstverständlich nehmen, sie kommt nur, wenn wir sie wirklich einfordern, selbst wenn sie etwas kostet. Ungleichberechtigung ist auch teuer, aber das rechnet natürlich lieber keiner so genau aus.

Über Lynn Blattmann

Lynn Blattmann, 1961, Historikerin und Sozialunternehmerin, engagierte sich Ende der 80er Jahre bis 2006 bei den Grünen und organisierte Frauenwahlkämpfe, 2006-2018 war sie COO einer großen Sozialunternehmung in St. Gallen und publizierte zu Arbeitsintegrationsthemen, seit 2018 ist sie als Beraterin, Historikerin und Foodbloggerin wieder beruflich selbständig.