Edit-a-thon „Frauen für Wikipedia“
Wo sind die Frauen auf Wikipedia? Rund 16 % der Biografien handeln von Frauen auf der deutschsprachigen Seite von Wikipedia. Am Schweizer Edit-a-thon „Frauen für Wikipedia“ versammeln sich seit November 2018 erfahrene und lernende Schreiber*innen mit dem Ziel, Frauen auf der wichtigsten Informationsseite der Welt sichtbar zu machen, zuletzt am 30. April. Muriel Staub ist Mitbegründerin und Co-Organisatorin des Edit-a-thon. Ausgebildet an der Hochschule für Wirtschaft St. Gallen, arbeitet sie beruflich für die globale Bürgerbewegung Avaaz. Wie funktioniert Wikipedia? Wie entsteht ein Biografie Eintrag? Was kann ein Edit-a-thon für CH2021 leisten? Cécile Speitel hat mit Muriel Staub gesprochen.
CS: Muriel Staub, was fasziniert Sie an der freien Enzyklopädie Wikipedia, dass Sie sich dafür engagieren?
MS: Ganz unterschiedliche und viele Dinge. Mich fasziniert, wenn ich sehe, wie Tausende von Menschen gemeinsam an einem Projekt arbeiten, das allen Menschen zugutekommt – was ohne das Internet nicht möglich wäre. Die Wikipedia hat in diesem Zusammenhang in Polen ein Denkmal erhalten als “grösstes je von Menschen erstellte Projekt”. Ich bin begeistert von all den ehrenamtlichen Autorinnen und Autoren, die jeden Tag die Wikipedia ergänzen, aktualisieren und pflegen. Jeder Wikipedia-Artikel hat eine eigene Versionsgeschichte, aus der ersichtlich wird, wann er von wem bearbeitet wurde, und was genau geändert wurde. Das finde ich etwas vom Tollsten an Wikipedia, dieses Logbuch, das volle Transparenz und Nachvollziehbarkeit garantiert. Da steckt eine unglaubliche Arbeit dahinter. Die Wikipedia ist heute nicht mehr weg zu denken und eine Wissens-Infrastruktur, die für uns inzwischen fast zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Aber das ist sie eben nicht. Nebst einer Faszination schwingt genau darum auch sehr viel Dankbarkeit mit für dieses wunderbare Projekt, das zurzeit in der Schweiz die fünft meist besuchte Webseite ist.
Um Frauen auf Wikipedia sichtbar zu machen, haben Sie, gemeinsam mit der Wirtschafts-journalistin Patricia Laeri und mit Katia Murmann, Leiterin Digital der Blick-Gruppe, den Edit-a-thon „Frauen für Wikipedia“ ins Leben gerufen. Auf der Webseite geben Bilder Einblick, wie Teilnehmer*innen konzentriert nebeneinander an ihren Laptops schreiben. Wie läuft ein solcher Edit-a-thon konkret ab?
Die letzten vier Veranstaltungen waren unglaublich gut besucht, und die Stimmung war grossartig. Urspünglich haben wir den Edit-a-thon zu dritt initiiert, aber inzwischen fühlt es sich eher an wie eine Bewegung – viele weitere Menschen sind dazugestossen. An den Anlässen selbst schauen wir zuerst, dass alle mit den notwendigen Informationen versorgt sind, damit sie anschliessend einen Wikipedia Artikel verfassen können. Wir weisen darauf hin, dass jeder Satz und Abschnitt in einem Wikipedia-Artikel mit Quellen belegt werden sollte, damit für die Leser*innen klar ist, von wo die Information im Wikipedia Artikel stammt. Und wir erklären, dass es in der Wikipedia sogenannte Relevanzkriterien gibt, an denen man sich orientieren sollte. Danach geht es los mit Recherchieren und Schreiben. Es wird aber auch diskutiert, wir tauschen uns aus und helfen einander gegenseitig. Es ist ein wahnsinnig inspirierendes und produktives Umfeld. Ich erlebe die Teilnehmenden jeweils voller Tatendrang, sie sind sehr motiviert, und ich habe immer das Gefühl, in diesem Moment Teil einer grösseren Bewegung zu sein.
Diese Relevanzkriterien, die für das Erstellen von Wikipedia Artikeln gelten, entpuppen sie sich für das Verfassen von Biografien nicht auch als Hemmschuh, weil sie aus einem wissenschaftlichen, männlich geprägten Verständnis, stammen?
Die Kriterien, wie wir sie heute vorfinden, sind vielfach Ergebnisse mehrjähriger Konsens-findungsversuche. Ich kann z.B. einen Artikel über eine Architektin schreiben, wenn sie einen national oder international bedeutsamen Architekturpreis gewonnen hat. Oder über eine Schriftstellerin, wenn sie beispielsweise zwei Monografien (Belletristik) oder vier Sachbücher geschrieben hat. Die Relevanzkriterien gelten für alle Menschen gleich, unabhängig von ihrem Geschlecht. Jedoch ist es sicher so, dass diese Kriterien die bestehenden Missverhältnisse reproduzieren. Aber das Fantastische ist: Diese Relevanzkriterien sind nicht fix, sondern können stets neu ausgehandelt werden.
Wikipedia, vor 19 Jahren gegründet, hat sich über alle Kontinente verbreitet mit Tausenden von Menschen, die an dieser Enzyklopädie mitschreiben – wer bestimmt da die Kriterien?
Das sind die ehrenamtlichen Autor*innen und Autoren – so wie sie die Wikipedia Artikel aushandeln, vereinbaren sie auch diese Relevanzkriterien. Sie können sich vorstellen: Die Community – also die ehrenamtlichen Verfasser*innen – organisiert sich nach demokratischen und meritokratischen Grundprinzipien. Die Communityist ständig aktiv am Diskutieren und Aushandeln, das ist ein richtig lebendiges, dynamisches System. Heute finden Sie auf der deutschsprachigen Wikipedia 2‘430‘353 Artikel, und in den letzten 30 Tagen waren 20‘108 Benutzer*innen aktiv (sprich haben mindestens eine Bearbeitung vorgenommen). Die Wikipedia existiert in 308 Sprachversionen, u. a. auch in Rätoromanisch oder Esperanto.
Nun können, aus welchem Interesse auch immer, aufschlussreiche Informationen bei Seite gelassen werden. Haben Sie nie Zweifel an der Verlässlichkeit der Informationen?
Bei Wikipedia können wirklich alle Menschen mitschreiben, d.h. jeder und jede kann einen Eintrag bearbeiten oder verfassen. Die Wikipedia beruht auf dem Vielaugenprinzip, d.h.
es gibt eine Art gegenseitige Beobachtung. Da das ganze System sehr transparent ist, ist es für alle nachvollziehbar, wer was genau zu welchem Zeitpunkt ändert. Das erlaubt auch eine gewisse gegenseitige Kontrolle. Aber die Mitarbeit an der Online-Enzyklopädie appelliert auch an die Eigenverantwortung der Beitragenden – und die meisten Menschen haben zum Glück gute Absichten, das sehe ich immer wieder. Zu den Quellen gibt es in der Wikipedia Hinweise, welche Materialien als Belege genutzt werden sollten und wie man diese Belege prüfen kann.
Rund 80 Personen hatten sich für den letzten, vierten Edit-a-thon am 30. April angemeldet, der aus aktuellen Gründen digital durchgeführt wurde. Wie haben Sie dieses virtuelle Treffen bewältigt?
Die Vorbereitung war sehr intensiv. Das Event-Team vom Schweizer Radio und Fernsehen hat uns dabei sehr stark unterstützt. Vom Resultat bin ich begeistert. Die grösste Herausforderung war, die Teilnehmer*innen im Verlaufe der Veranstaltung ideal unterstützen zu können, ihre Fragen zu beantworten, wie z.B. ein Bild in einen Wikipedia Artikel eingefügt werden kann, wie es um die Bildrechte steht oder wie sich ein Artikel aus einer Sprache in eine andere übersetzen lässt. Mehr als 95 Beiträge wurden zusammengetragen. Ich bin sehr froh, haben wir diese Krise als Chance für den Edit-a-thon genutzt. Es gab sogar Live-Schaltungen zu einzelnen Teilnehmer*innen nach Hause, beispielsweise zu Nathalie Christen, Daniela Milanese, Annina Frey und Rosanna Grüter.
Der Edit-a-thon vom vergangenen Herbst fand erstmals global statt. Zeitgleich wurde in Zürich, Berlin, London, Barcelona, Johannesburg, Buenos Aires, Ontario und Washington geschrieben. Heisst das, die Initiative „Mehr Frauen auf Wikipedia“ hat sich von der Schweiz aus über die Welt verbreitet?
Das war sicherlich ein erster Schritt in diese Richtung. Wir Organisatorinnen sind daran, uns auch vermehrt über die Schweizer Grenze hinaus zu vernetzen, mit ähnlichen Initiativen aus den deutschsprachigen Nachbarländern. Auch über die Sprachgrenze hinaus streben wir den Austausch an, z.B. mit Women in Red –einem Projekt in der englischsprachigen Wikipedia, das ebenfalls die online Enzyklopädie mit Frauenbiografien bereichern will. Wir können viel voneinander lernen.
300 neue Biografien Artikel über Frauen sind dank dem von Ihnen mitbegründeten Edit-a-thon bis heute entstanden. Gleichzeitig geht es ja darum, mehr Frauen als Autor*innen auf Wikipedia zu holen. Gemäss Umfragen sind 10 – 20 % der Autor*innen Frauen. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Das Ziel, mehr Frauen zum Mitschreiben zu bewegen, klappt mit diesem Format sehr gut. Wir stellen fest, dass einige Frauen immer wieder am Edit-a-thon teilnehmen – einige von ihnen waren bereits zum vierten Mal in Serie mit dabei, das freut uns natürlich unglaublich. Andere haben zum ersten Mal teilgenommen, was ich toll finde. Diese Mischung macht’s aus für mich. Und wenn jemand mal einen Abend lang Wikipedia-Artikel bearbeitet oder erstellt hat, dann ist die Hürde in Zukunft viel kleiner, um auch im Alltag eine kleine Korrektur oder Ergänzung vorzunehmen.
Aus welchen Bereichen kommen die Teilnehmenden?
Die meisten haben eine journalistische Ausbildung und/oder arbeiten im Bereich Journalismus und Medien. Unser Anlass zielt auf diese Zielgruppe ab. Es gibt in der Schweiz viele weitere ehrenamtliche Wikipedia-Autor*innen, die solche Schreibveranstaltungen für ein anderes Publikum organisieren. Oft werden sie in Zusammenarbeit mit Vereinen oder Partnerorganisationen durchgeführt. Zu finden z.B. auf WikiProjekt Schweiz/Atelier, Wikipedia:Zürich oder auf oder auf Wikimedia.
In der Trägerschaft des Edit-a-thons engagieren sich srf, Ringier und Wikimedia. Sie selbst haben u.a. für Wikimedia gearbeitet. Erstmals hörte ich von diesem Verein, als Sie als Vorstandsmitglied von Wikimedia an den diesjährigen Solothurner Filmtagen einen Edit-a-thon Workshop durchführten. Welche Rolle spielt dieser Schweizer Verein in unserer digitalen Welt?
Der Schweizer Verein Wikimedia CH unterstützt die Förderung von freiem Wissen. Einerseits steht Wikipedia als Projekt klar im Zentrum. Andererseits befassen wir uns mit zahlreichen weiteren Projekten, die das Ziel verfolgen, freies Wissen und offene Daten bereitzustellen, beispielsweise die Datenbank Wikidata oder die freie Bildersammlung Wikimedia Commons. Der Verein arbeitet auch mit zahlreichen Partnerorganisationen zusammen – mit Bibliotheken, Archiven oder Museen –, um schweizbezogene Inhalte auf der Wikipedia für alle frei zugänglich zu machen. Zusammengefasst: Wikipedia ist ein Projekt, und Wikimedia ist die “Organisation” hinter dem Projekt.
Was liegt Ihnen als Vorstandsfrau von Wikimedia besonders am Herzen?
Diversity ist ganz klar eine Priorität. Weitere Bereiche, wofür ich mich einbringe, sind strategische Partnerschaften und Fundraising. Die Wikipedia und ihre Schwesterprojekte werden nämlich alle durch Spenden finanziert.
2021 jährt sich zum 50. Mal die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Schweizer Frauen. Viele Frauen haben sich jahrelang dafür eingesetzt, dafür gekämpft – kann ein Edit-a-thon sie bekannt machen?
Im November findet der nächste Schreibanlass statt. Ich fände es toll, wenn wir gemeinsam bis dahin eine Liste mit Namen solcher Frauen erstellen könnten, die noch keinen Wikipedia Artikel haben. So können wir das nämlich ändern und diese Frauen auch in der Wikipedia sichtbar machen.
Manche dieser Pionierinnen haben nichts publiziert, sie waren z.B. als Vorstandsfrauen aktiv oder in der Frauenbewegung. Welche Relevanzkriterien braucht es für sie?
Wiederkehrende und überregionale Berichterstattung über diese Frauen wäre hilfreich. Diese können als Belege und Quellen herbeigezogen werden. Aber auch Archivbestände könnten zum Zuge kommen. Wir werden uns mit dem Thema ausführlicher auseinandersetzen müssen, um zu sehen, was möglich ist. Und es scheint mir wichtig zu betonen: “Relevanzkriterien sind hinreichende, nicht aber notwendige Bedingungen für enzyklopädische Relevanz.”
Sollte sich die Leser*in von Ihren Ausführungen animiert fühlen, jetzt eine Frauenbiografie auf Wikipedia zu schreiben – welche Einstiegsempfehlung geben Sie?
Wagen Sie es, unbedingt! Wir haben Videos aufgenommen, wo Sie sehen, wie Sie ganz einfach bei Wikipedia mitmachen können, z.B. indem Sie damit beginnen, einen bestehenden Artikel zu ergänzen. Das Motto in der Wikipedia lautet: Sei mutig. In diesem Sinne: Viel Spass und danke, dass Sie mitmachen. Und falls Sie an einem Anlass teilnehmen möchten, finden Sie auf editathon.ch weitere Informationen.