Gosteli-Stiftung – das Gedächtnis der Schweizer Frauen
Wussten Sie, dass …
- Frauen in der Schweiz bereits im Jahr 1905 eine bessere Versorgung der Verdingkinder anstrebten und im selben Jahr den Slogan „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ propagierten?
- sich 1896 schon rund 100’000 Frauen in etwa 5’000 Vereinen für die Allgemeinheit und das öffentliche Wohl engagierten?
- sich der Bundesrat bereits 1957 vorbehaltlos für das Frauenstimmrecht aussprach?
- es aber auch Frauen gab, die kategorisch gegen das Stimmrecht waren?
- die Frauen auch zu „sogenannt“ männlichen Themen wie dem Fabrikgesetz, wirtschaftlichen Fragen oder der Atomenergie Stellungnahme bezogen?
Alle Informationen zu diesen Tatsachen und manches mehr sind in der Gosteli-Stiftung, dem Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, zu finden.
Wir beherbergen über 450 Archivbestände, davon etwa die Hälfte von Organisationen und Vereinen, z.B. Alliance F, Evangelische Frauen Schweiz EFS, Schweizerische Gesellschaft Bildender Künstlerinnen SGBK. Die andere Hälfte umfasst persönliche Nachlässe von Frauen, die in Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur oder Gesellschaft in den letzten 150 Jahren eine wichtige Rolle gespielt haben, z.B. die Politikerin Marie Boehlen, die Juristin Gertrud Heinzelmann oder die Unternehmerin und Wirtschaftspionierin Else Züblin-Spiller. Zum Archiv gehören auch eine Fachbibliothek und eine über 10’000 Dossiers umfassende Zeitungsausschnittsammlung. Aneinandergereiht würden alle Unterlagen in unserem Archiv etwa einen Kilometer ergeben.
Diese Dokumente zeugen davon, wie sich Frauen seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz in vielfältigster Art engagiert und die neuere Geschichte der Schweiz, ohne selber politische Rechte zu besitzen, trotzdem mitgeprägt haben. Die Frauen erhielten die politischen Rechte auf nationaler Ebene bekanntlich erst 1971, sie nahmen aber mit ihren Organisationen an der Gestaltung der Gesellschaft wirksam teil.
Unsere Gründerin und Stifterin Marthe Gosteli (22.12.1917 – 17.04.2017) war selbst aktiv in der Frauenbewegung und kämpfte für das Frauenstimmrecht. Sie erkannte, dass die Frauenverbände über umfangreiches Archivmaterial verfügten, diese Dokumente aber verstreut, schwer zugänglich und ungeordnet waren. Die Historikerin Prof. Beatrix Mesmer der Universität Bern bestätigte diese Missstände.1982 gründete Marthe Gosteli die Stiftung und das Archiv mit der Überzeugung, dass „ohne Gleichberechtigung in der Geschichte die Frau nie gleichberechtigt sein wird“. Die grossen Leistungen ihrer Vorgängerinnen und Mitstreiterinnen durften nicht in Vergessenheit geraten. Es war das Ziel von Marthe Gosteli, mit ihrem Archiv die Taten von Frauen für künftige Generationen zu sichern und im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Marthe Gosteli hat damit nicht nur als Frauenrechtlerin, sondern auch als Archivarin und Chronistin der Frauenbewegung Pionierarbeit geleistet. Sie hat den Grundstein dazu gelegt, dass wir heute im Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung einen landesweiten professionellen Service public leisten können.
Die Archivalien und Dokumente aufzuarbeiten und zugänglich zu machen, sind zentrale Aufgaben der Stiftung. Damit werden die Unterlagen für Forschung und Öffentlichkeit verfügbar und können in Wissenschaft, Bildung und Allgemeinwissen einfliessen. So erschliessen wir die Unterlagen in Online-Datenbanken nach internationalen Archiv- und Bibliotheksstandards. Die Materialien sind öffentlich, d.h. für alle Interessierten unentgeltlich zugänglich.
Wir – ein Team von drei Fachfrauen mit Teilzeitpensen – legen grossen Wert auf die Beratung im Archiv vor Ort. Wir pflegen aber auch vielfältige Kontakte mit schriftlichen und telefonischen Auskünften. Wir beantworten nicht nur Anfragen zu den Hintergründen des Frauenstimmrechts, sondern recherchieren z.B. nach Eingaben der Frauenorganisationen zum Eherecht, stellen Unterlagen zur Hühnerhaltung, zur Geschichte des Welschlandjahrs oder zur Entwicklung der Pflegeberufe zusammen oder gehen der Frage eines Frauenverbands nach, woher die Biene in ihrem Logo stammt.
Wer recherchiert im Archiv? Unsere Benutzerinnen und Benutzer sind unterschiedlich: Viele Studierende und Forschende besuchen uns, so entstehen jedes Jahr Hochschularbeiten auf der Grundlage unserer Bestände. Schülerinnen melden sich, die für ihre Maturarbeiten überhaupt erstmals in Kontakt mit Archivalien und alten Handschriften kommen, oder Medienschaffende, die nach Bild- oder Informationsmaterial für ihre Beiträge recherchieren. Auch Vertreterinnen von Frauenorganisationen kommen, um Einblick in ihre Geschichte zu erhalten, wenn beispielsweise ein Jubiläum vor der Türe steht. Filme entstehen dank unserem Archiv: Die Regisseurin Petra Volpe hat für „Die göttliche Ordnung“ intensiv in unseren Beständen recherchiert.
Im Hinblick auf 2021 „50 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht“ sind wir in regem Kontakt mit verschiedenen Museen und ProjektmitarbeiterInnen, die für ihre Vorhaben zum Jubiläumsjahr Materialien und Informationen aus unserem Archiv zusammentragen.
Die Frauenbewegung hat ihre Anliegen und die Vorgehensweise der jeweiligen Zeit angepasst. Als Dokumentationsstelle verfolgen wir auch die aktuellen Debatten und haben z.B. Zeitungsartikel, Broschüren, Flyer und Aufrufe zum Frauenstreik 2019 bei uns archiviert. Wir übernehmen weiterhin gezielt Bestände und Nachlässe von Frauen und Frauenorganisationen. So durften wir vor kurzem den Nachlass von Annemarie Rey entgegen nehmen, die sich unermüdlich für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs einsetzte, oder das Archiv des Schweizerischen Gärtnerinnenvereins, der sich für bessere und gerechtere Arbeitsbedingungen engagierte und sich nach 102 Jahren Vereinstätigkeit aufgelöst hat.
Archivierung und Wissensvermittlung sind nicht gratis. Die Stiftung muss jährlich ein Defizit von durchschnittlich CHF 120‘000 aus ihrem schrumpfenden Vermögen decken. Für die langfristige Sicherung von Stiftung und Archiv und um mit dem digitalen Zeitalter Schritt zu halten, sind Beiträge Dritter notwendig. Der Stiftungsrat strebt eine Mehrsäulenfinanzierung an: Eigenwirtschaftlichkeit, Spenden, Unterstützung durch die abliefernden Frauenorganisationen sowie regelmässige Beiträge der öffentlichen Hand. Der Kanton Bern hat in Beantwortung einer Motion aus dem Jahr 2017 Beiträge in Aussicht gestellt, sofern auch der Bund Beiträge spricht.
Im Juni 2019 hat die Gosteli-Stiftung ein Gesuch um Fördergelder an den Bund eingereicht. Das Gesuch wird derzeit vom Schweizerischen Wissenschaftsrat und vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) geprüft. Der Nationalrat und die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerats haben bereits beantragt, den Erhalt und die Weiterentwicklung des Archivs sicherzustellen: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203006
Die Quellen zur Geschichte der Frauen und Frauenbewegung in der Schweiz sind kontinuierlich am Wachsen. Die Gosteli-Stiftung stellt die Grundlagen sicher, um die Schweizer Frauengeschichte jetzt und zukünftig zu erforschen. Willkommen zum Besuch und zur Recherche!
Besuch im Archiv digital: Video Porträt über die Gosteli-Stiftung produziert anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Burgergemeinde Bern 2017.