Sorry für das späte Frauenstimmrecht
Im eben angelaufenen Jahr wird man sich eingehend damit befassen, dass vor 50 Jahren – endlich – auch in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Dabei wird man nicht nur jubilieren, sondern sich hoffentlich auch vergegenwärtigen, was die Gründe dafür waren, dass diese Reform derart spät zustande kam. Und dabei sollte man bis zur Frage vorstossen, ob ähnliche mentale Blockaden noch immer bestehen und weiterwirken, natürlich im eng verwandten Fragen wie Chancen- und Lohngleichheit, aber auch in anderen Reformfragen, die heute ebenfalls in der politischen Agenda stehen und auf die lange Bank geschoben werden. Der Typus der 323’882 Stimmberechtigten (immerhin 34,3%), der selbst am 7. Februar 1971 noch immer gegen die längst fällige war, ist nicht ausgestorben.
Seit einigen Jahren ist es üblich – und das ist eine gute und zugleich fragwürdige Gepflogenheit -, sich für Fehlverhalten früherer Generationen zu entschuldigen. Dabei geht es um gravierende Verstösse gegen heutige Rechtsvorstellungen, und dabei ist es wichtig, wer sich entschuldigt – nicht einfach eine Privatperson oder ein Repräsentant einer halböffentlichen Vereinigung. Entschuldigungen werden von Offizialpersonen abgegeben und erwartet, von Regierungsmitgliedern und kirchlichen Würdenträgern.
Diese neue Gepflogenheit hat auch die Schweiz erfasst. 1995 hat sich Bundespräsident Kaspar Villiger für die schweizerische Mitwirkung an der antisemitischen Passmarkierung (Stichwort: J-Stempel 1938) entschuldigt und dafür Anerkennung wie Kritik geerntet. Weniger bekannt ist die Entschuldigung, die Bundespräsident Alphons Egli bereits 1986 im Nationalrat für das den Jenischen angetane Unrecht abgegeben hat (Stichwort: Kinder der Landstrasse). Diesem Akt folgten die Entschuldigungen der beiden Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf im September 2010 und Simonetta Sommaruga im April 2013 wegen der Heim- und Verdingkinderpraxis, nicht wie im Fall Eglis in einer laufenden Parlamentsverhandlung, sondern in einem speziellen Auftritt und auch in Gegenwart von Opfern. Die bundesrätlichen Entschuldigungen erschienen als persönliche Auftritte und nicht als Akte der Gesamtregierung, obwohl sie in zwei Fällen von bundespräsidialer Warte und 1995 ausdrücklich im Namen «des Bundesrats» ausgingen.
Ein Blick auf die von Bundespräsident Egli gewählte Formulierung macht zwei besondere Aspekte sichtbar: Die Entschuldigung galt Vorkommnissen, die «vor mehr als zehn Jahren» passierten. Inhaltliche Distanzierungen können in dem Masse leichter fallen, als die Distanz zum Vorkommnis gross ist. Im Weiteren sprach Egli sein Bedauern für die Rolle des Bundes in dieser Angelegenheit aus und fuhr dann fort: „Ich scheue mich sogar nicht, mich in der Öffentlichkeit dafür zu entschuldigen…». Auf blosses Bedauern folgte – sogar – eine verbindlichere Entschuldigung. Im Japanischen soll es mindestens fünf Abstufungen von verbalen Verbeugungen geben (https://gogonihon.com/de/blog/sumimasen-oder-gomennasai-entschuldigung-auf-japanisch/).
In unseren Breitengraden kommt ein «T’schuldigung» schnell über unsere Lippen und entspringt oft nicht wirklichem Bedauern und will auf billige Weise das Gegenüber verpflichten, die Sache nicht tragisch zu nehmen (Stichwort: Löschtaste). Streng genommen kann im Grunde nur das Gegenüber entschuldigen, das reflexive «sich» ist eigentlich anmassend.
Bereits im Hinblick auf die erste gesamtschweizerische Abstimmung zur Einführung des Frauenstimmrechts haben 1958 beide noch männlich zusammengesetzte Kammern mit einem überwältigenden Mehr für die Aufhebung der politischen Frauendiskriminierung gestimmt (im Nationalrat mit 96:43 und im Ständerat mit 25:12 Stimmen). Einige dieser Volks- und Kantonsvertreter stimmten allerding nur darum dafür, weil sie davon ausgingen, dass bei der Volksabstimmung schon ein ablehnendes Votum rauskommen und damit für einige Zeit in dieser lästigen Sache wieder Ruhe eintreten wird. Wie das Nein vom 1. Februar 1959 zeigte, sollten sie Recht bekommen.
Zu einer formellen Entschuldigung für die jahrelange Rechtlosigkeit in politischen Dingen wird es anlässlich des 50 Jahr-Jubiläums wohl nicht kommen, hingegen zu mehr oder weniger ehrlichen Bekundungen des Bedauerns. Was man aber machen könnte: Man könnte alle Männer des heutigen National- und Ständerats in einer „konsultativen“ Abstimmung nochmals über die Einführung des Frauenstimmrechts entscheiden und ernsthaft darüber nachdenken lassen, ob sie und warum sie 1958 allenfalls dagegen gewesen wären und ob heute der Meinung sind, dass ein Nein schon damals eindeutig und zutiefst ungehörig war.
Über Georg Kreis
Georg Kreis, em. Prof. für Geschichte der Universität Basel und Herausgeber des Buches „Das Basler Frauenstimmrecht. Der lange Weg zur politischen Gleichberechtigung von 1966.“ Christoph Merian-Verlag 2016.