Die einzig denkbare Zukunft
Auch das Schweizer Frauenstimmrecht hat endlich einen runden Geburtstag erreicht – und wir Frauen, Femist*innen, Kämpfer*innen, Töchter und Mütter schauen zurück.
Zum Vergleich: Österreich feierte 2018 hundert Jahre Frauenstimmrecht. 2021 feiern wir 50 Jahre; dank Frauen wie Emilie Gourd, Antoinette Quinche oder die ehemalige SP-Ständerätin Emilie Lieberherr, die nicht locker liessen. Sie wollten die Frauen rechtlich den Männern gleichgestellt sehen – das war ihre Vision.
Sie führten nach und nach das Frauenstimmrecht auf kommunalen Ebenen ein und sie warfen den Bettel nicht hin als die Schweizer Männer im Februar 1959 das Frauenstimmrecht ablehnten. Viel zu wichtig, viel zu grundsätzlich war dieses demokratische Anliegen der sogenannten ersten feministischen Welle, der Suffragetten und Egalitätsfeminist*innen.
Es waren auch diese Egalitätsfeminist*innen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich für die Ausweitung der Bildung auf Frauen* und ein Recht auf Arbeit einsetzten. Frauen und Männer sollten Gleichstellung erfahren. Auf den Schultern dieser stolzen Gigantinnen baut unser heutiger Kampf. Ein Kampf, der sich weiterentwickelt hat; inklusiver und differenzierter wurde. Anders als bei den Egalitätsfeminist*innen vor 50 Jahren und den liberalen Feminist*innen sind unsere Ziele radikaler, unsere Kämpfe vielfältiger.
Wenn der Frauen*streik 2019 fordert “Lohn, Zeit, Respekt”, dann wollen wir linken FINTs keine Gleichstellung mit den ebenfalls durch den Kapitalismus und das Patriarchat ausgebeuteten cis-Männern. Wir wollen keine Chancengleichheit in diesem maroden System, das endliche Ressourcen und die Natur behandelt, als wäre es Mary Poppins magische Reisetasche. Wir wollen nicht möglichst viele FINTs in die Teppichetagen der Konzerne pushen. Das wäre eine weitere Form der Meritokratie und damit geben wir uns nicht (mehr) zufrieden.
Wir wollen die feministische Revolution.
Unser Feminismus bedeutet mehr als Gleichstellung, manchmal vergisst das die Linke. Feminismus bedeutet für die Freiheit jedes einzelnen Menschen dieser Erde zu kämpfen, Unterschiede wahrzunehmen und zu respektieren. Es bedeutet “jede*r nach seinen*ihren Bedürfnisse und Möglichkeiten” statt “jedem Chancengleichheit auf gleiche Ausbeutung in der kapitalistischen Lotterie des Lebens”.
Linker Feminismus definiert Arbeit neu, integriert die unbezahlte Care Arbeit in ihre Überlegungen und anerkennt, wer den Löw*innenanteil eben dieser Arbeit in der Schweiz und global leistet. Eben nicht die Teppichetagen. Es sind die Mütter, die Pfleger*innen, die Kinderbetreuer*innen, die Putzkräfte, die Detailhandelsangestellten. Es sind die Näher*innen, Fabrikarbeiter*innen und Feldarbeiter*innen im globalen Süden. Alles mehrheitlich FINTs. Würden sie alle nur eine Stunde streiken, die Welt würde im Chaos versinken. Und dennoch wird diese Arbeit grossmehrheitlich gratis oder unter miserabler Entlohnung, sowie enormen Zeitdruck geleistet. Diese Arbeit muss erkannt und respektiert werden. Sie braucht Zeit und öffentliche Gelder.
Feminismus fordert ein gutes Leben für alle. Ein freies Leben. Wir FINTs müssen die Selbstbestimmung über unsere Körper, unsere Beziehungen, unsere Identitäten haben. Wir sind keine Geburtsmaschinen für neue Arbeitskräfte des Kapitalismus, Abtreibungen müssen allen zugänglich sein und bleiben. Wenn wir aber Kinder wollen, dann muss sich die Wirtschafts an uns orientieren – und nicht wir uns an der Wirtschaft.
Wir müssen nicht herkömmlichen Mustern wie Heteropartnerschaften, Ehen, Geschlechtern wie Mann und Frau folgen – wir können es, wenn wir wünschen. Wir sind divers; wir haben verschiedene Körperformen, Kulturen, Erfahrungen und Hautfarben. Wir haben verschiedene Bedürfnisse – ein Fakt der respektiert, ja gefeiert werden muss und nicht unter den Teppich gekehrt werden soll.
Unser Feminismus bekämpft strukturelle Gewalt – auch in den eigenen Reihen. Das heisst, wir fordern Platz und Repräsentation für alle. Unsere Forderungen müssen gehört und als gleichwertig angesehen werden. Unser Kampf braucht Ressourcen.
Unser linker Feminismus ist mehr als Gleichstellung. Es ist ein Analyseinstrument, eine politische Praxis und die Utopie einer demokratischen Wirtschaft, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen aller orientiert, einer Welt ohne Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung verlangt und Freiheit für alle garantiert.
Kurz: Es ist die einzig denkbare Zukunft.
Zu den Autor*innen:
Tamara Funiciello ist Sozialistin und Feministin, Berner SP-Nationalrätin, Vorständin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und Co-Präsidentin der SP Frauen Schweiz.
Mia Jenni ist Sozialistin und Feministin, Teil der Geschäftsleitung der JUSO Schweiz und SP-Einwohnerrätin in Obersiggenthal (AG).