Was sich in 50 Jahren alles ändern kann…
Nein, ich war weder glücklich noch froh über die Einführung des Frauenstimmrechts, damals vor 50 Jahren. Zwei kleine Kinder und der Haushalt forderten mich voll und ganz. Zudem war ich noch absolut verhaftet in der Vorstellung, als Hausfrau und Mutter müsste ich mindestens perfekt sein.
Wie sollte ich mir da eine weitere Herausforderung wünschen? Abstimmen und Wählen – welche Verantwortung! Die Wichtigkeit dieses Privilegs prägte sich mir in der Kindheit tief ein. Mein Vater hielt seine Entscheidungen in dieser Sache immer strikt geheim. Niemand, gewiss auch nicht meine Mutter, durfte da Bescheid wissen und ihn politisch einordnen. Er fühlte die Gefahr, seine Freiheit und Stellung in der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen! Und ob Frauen für diese Verantwortung geeignet wären? Klar geäussert hat er sich nie dazu, aber Schweigen sagt oft mehr als viele Worte. Wie wohl meine Mutter dazu stand? Heute weiss ich, es gab viele Dinge, an denen sie interessiert war. Aber auch sie hielt sich während ihrer Ehe strikt an das unumstössliche Gesetz der Rolle einer traditionellen Ehefrau. Eine drei- und vierfache Belastung gehörte halt dazu! Mein Interesse an der Politik und dem Weltgeschehen war aber gross. Das Radio spielte dabei eine wichtige Rolle. Zuhören konnten uns die Männer ja nicht verbieten und auf die Nachrichten und das ‘Echo der Zeit’ wollten sie nicht verzichten. Das waren wichtige Quellen, wo sonst hätten sie sich informieren können? Und wir hörten mit.
Die stolze Darstellung der Schweiz als älteste Demokratie hinterfragte ich erst später. Noch heute ärgere ich mich, dass über diese Formulierung weder gesprochen noch ihr widersprochen wird.
Wie schlimm fand ich es im Geschichtsunterricht, dass früher die Männer der Landbevölkerung nicht mitbestimmen durften. Aber dass dies für alle Frauen ebenso und noch Jahrhunderte später immer noch galt, sah ich damals nicht.
Erst die Warum-Fragen meiner Kinder liessen mich erkennen, dass auch ich Fragen stellen durfte und das Hinterfragen gar eine Notwendigkeit für mein weiteres Dasein schuf. Schritt für Schritt fand ich den Weg zum eigenen Denken! Hinter der weichgespülten, angepassten Frau entdeckte ich meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Weg von den traditionellen Strukturen und dem gängigen Denken und Handeln. Der Wandel hin zur Eigenständigkeit verlief erfolgreich. Ich bezeichne mich heute als emanzipierte Frau und Feministin. Als eine der Gründerinnen der feministischen fakultät blicke ich mit Stolz auf unsere erfolgreichen feministischen Lehrgänge und weitere Angebote. Das Interesse an feministischen Themen wächst. Frauen* spüren, dass etwas fehlt und sind bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Sie wollen Hinaus aus der Beschneidung unserer Ansprüche und Begehrlichkeiten. Eine nächste Gelegenheit bietet der 5. feministische Lehrgang, der eben ausgeschrieben wurde.
Dass sie damit im Recht sind zeigt z.B. die Diskussion um Quoten für Frauen in verschiedenen Bereichen. Die Abneigung überwiegt noch immer. Dass die Schweiz nur Quotenbundesräte kennt ist kein Thema. Jeder Landesteil, die Kantone und die Parteizugehörigkeit müssen unbestritten in gebührendem Masse berücksichtigt werden! Damit sind die Voraussetzungen für Männer gesetzt, politisches Geschick eine Nebensache. Führten diese Parameter zur Auslese der Besten? Mein Fragezeichen ist gross.
Das Fehlen der Frauen in der Politik ist so alt wie die Idee der Demokratie. Diese politische Ordnung wurde von alten griechischen und freien Männern mit Erfolg geschaffen. Noch immer finde ich demokratische Werte und Strukturen die beste Form, wie ein Zusammenleben verschiedener Menschen geregelt werden kann. Der Wortteil Demo hat sich mir als etwas Positives eingeprägt. Anders geht es mir mit kratie – dagegen spürte ich immer einen Widerstand. Zeit, diesem Gefühl nachzugehen. Bei Wikipedia und Co. fand Folgendes:
Demos (griechisch δῆμος dēmos, meist als „Staatsvolk„) aufgefasst, im Gegensatz zu ἔθνος éthnos „Volk“. Auch ohne Stimm- und Wahlrecht betrachtete ich mich als Schweizerin, also dem Staatsvolk zugehörig. Darin fühlte ich mich sicher und aufgehoben.
Kratos (griechisch Κράτος, Macht, Stärke) ist in der griechischen Mythologie die Personifikation der Macht und rohen Gewalt. Bei Hyginus wird er mit lateinischem Namen Potestas genannt. Bezeichnet heute Herrschaftsformen, politische Ordnungen oder politische Systeme, bei denen Macht und Regierung vom Volk ausgehen (Volksherrschaften).
Und da ist er wieder, der Begriff HERRschaft! Es waren einige wenige, freie und ausgesuchte Männer, die in einem elitären Kreis nach einer ihnen gefälligen Regierungsform suchten. Zwischen ihnen und den Frauenmenschen sowie den Sklavenmenschen bestand eine Trennlinie. Soweit uns bekannt ist, wurde diese Art Mensch weder in die Diskussion einbezogen noch wurde ihrem Dasein und ihren Bedürfnissen eine Bedeutung für den Staat und seine Funktion beigemessen. Ich würde sagen, diese alten Philosophen waren Sexisten und Vertreter eines Kastendenkens. Und mit diesen Bewusstseinslücken schufen sie – eben – die Demokratie.
Ich plädiere für ein neues Wortbild, in welchem alle Bewohnerinnen* eines Staates angesprochen werden. Schluss mit dem Mann als Massstab, an dem alles gemessen wird. Wie wäre es, wenn Frauen (und Männer?) im Jahr des 50jährigen Stimm- und Wahlrechts lustvoll und kreativ einen neuen Begriff in das patriarchale Sprachnetz einbringen würden?
Über Erika Bachmann
- Langjährige überzeugte Feministin, Absolventin des European Women’s College, Zürich
- Co-Initiatorin der fem! Ehrenmitglied auf Lebenszeit