Wie beurteilen wir ein halbes Jahrhundert?

Ein halbes Jahrhundert ist es also her, seit Frauen in der Schweiz auch von dem demokratischen Grundrecht schlechthin Gebrauch machen dürfen. Wir blicken (zum zigtausendsten Mal seit Mitte des letzten Jahres) zurück und fragen uns: Wo stehen wir heute?

Exemplarisch verfolgen uns dabei die Evaluationen anhand der am leichtesten verfügbaren Zahlen: den Frauenanteilen in politischen Gremien (Derungs et al., 2014, S.60). 2019 schien es auf den ersten Blick, als könnten wir eine ausgezeichnete Bilanz ziehen. Sowohl im Nationalrat als auch im Ständerat lag der prozentuale Anteil der Parlamentarierinnen so hoch wie nie zu vor (DSJ, 2020). Bilden diese Zahlen bereits alles ab, was sich in diesen 50 Jahren getan hat?

Lückenhafte Datenlage

Zum einen können wir uns fragen, wie repräsentativ der Überbegriff der „Frauen“ ist. Denn ein zweiter Blick zeigt, dass Politikerinnen im Schnitt gut ausgebildet und nur wenig jünger als ihr Stimmrecht sind. Wie steht es denn um die Beteiligung junger Frauen? Um die Partizipation nicht-weisser Menschen, um die nicht-Akademikerinnen oder um queere Menschen in der Politik – oder um Menschen, die in mehrere dieser Kategorien fallen? Die Datenlage lässt dazu auch in der Schweiz noch wenig Schlüsse zu (Derungs et al., 2014, S. 96).

Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, wie aussagekräftig der Blick auf die Aufteilung des Parlaments ist. Schliesslich stellen parlamentarische Aktivitäten nur einen Teil der politischen Partizipation dar. Andere Aspekte davon liessen sich etwa über die Entwicklung der Stimm- und Wahlbeteiligung von Frauen oder die Engagements im Rahmen von nicht-institutionalisierten politischen Bewegungen untersuchen (DSJ, 2021b). Oder darüber, warum Frauen sich trotz Interesse und vergleichsweise hoher Chancen seltener zur Wahl stellen (DSJ, 2021a).

Partizipation abseits der Zahlen

Aber auch abseits dieser Zahlen können wir fragen, wie die gemessene Partizipation in der Praxis aussieht. So kommen auch in Gremien mit höherem Frauenanteil tendenziell eher Männer zur Sprache (Beobachter, 2019). Und Politikerinnen erfahren unter anderem durch ihre Präsenz in der Öffentlichkeit verstärkt rassistische und sexistische Angriffe (Republik, 2021). Wie nehmen sich Politikerinnen in ihrer Rolle wahr? Wie gehen sie mit den Strukturen um, in welchen sie arbeiten? Auch dazu fehlen bisher repräsentative Umfragen für die Schweiz.

Dabei wäre gerade diese Forschung für die Evaluation der vergangenen 50 Jahre zentral. Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass das Ziel des Stimmrechts darin besteht, dass mündige Personen an politischen Entscheidungen teilhaben (Küng, 2020), müssten wir uns auch bei einem Rückblick daran orientieren. Dazu müssten wir uns drei Themenfelder genauer anschauen.

Was heisst Mitsprache?

Erstens wäre ein Blick darauf angemessen, was vor der Partizipation geschieht bzw. geschehen muss. Wenn Frauen sich nicht in einem Milizamt sehen (wollen), müssten wir uns fragen, woran das liegt. Und wenn wir die Miliztätigkeit fördern wollen, müsste die Frage lauten, wie potenzielle Kandidat*innen bestmöglich gefördert werden können.

Zweitens müsste klarer sein, was wir unter „Beteiligung“ verstehen. Geht es um die Erhöhung eines numerischen Anteils, oder gehören auch qualitative Merkmale dazu? Sowohl die Begrifflichkeiten als auch die Zielsetzung scheinen in den Diskussionen zum Fortschritt seit 1971 nicht ganz klar zu sein.

Und drittens müssen die Massstäbe definiert werden, anhand welcher wir die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte beurteilen. Gewisse Massstäbe setzen wir bereits implizit, wenn wir darüber sprechen, wie viel weiter wir seit der Einführung des Frauenstimmrechts gekommen seien. Aber erst die explizite Auseinandersetzung damit erlaubt uns, Lücken sichtbar zu machen. Wie sehr berücksichtigen wir die unterschiedlichen Erfahrungen innerhalb des Oberbegriffs „der politisch aktiven Frau“? Wie beurteilen wir die Teilhabe von Menschen, die nicht in eine oder in mehr als eine Schublade passen? Ab wann gilt die Mitsprache als vollständig – reichen 42% im Nationalrat aus?

Solche und ähnliche Fragen wären für Diskussionen über politische Beteiligung gerade in diesem Jubiläumsjahr zentral. Die eine, richtige Antwort gibt es darauf natürlich nicht. Wenn wir uns diesen Fragen aber deshalb einfach nicht stellen, wird eine angemessene Evaluation schwierig.

Die Autorin

Léonie Hagen ist Präsidentin des Jugendrat Brig-Glis und Vorstandsmitglied beim Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ).

Quellenverzeichnis

Beobachter, 2019. Im Bundeshaus reden Frauen weniger.

Derungs, Flurina, Lüthi, Janine, Schnegg, Brigitte, Wenger, Nadine, Ganzfried, Miriam. 2014. Gleichstellung von Frau und Mann. Aktionsplan der Schweiz: Bilanz 1999-2014. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann.

DSJ, 2021. Geht der Siegeszug der Frauen durch alle föderalen Ebenen weiter?

DSJ, 2021. Partizipieren Frauen politisch anders als Männer?

DSJ, 2020. Das Parlament 2019–2023 – repräsentativ für die Jugend?

Küng, Zita. 2020. Demokratie denken. CH2021.

Republik, 2021. Aber wehe, sie machen den Mund auf.