Demokratie denken

2021 wird ein Demokratie-Jubiläumsjahr: Dann werden Schweizerinnen 50 Jahre die gleichen politischen Rechte haben wie die Schweizer. Ich finde, das ist ein guter Anlass, über Demokratie nachzudenken.

Sobald ich ‘Demokratie’ denke, geht mein Horizont über mich hinaus. Ich allein mache keine Demokratie aus. Ich richte also den Blick auf meine Mitwelt, beobachte wer und was auch noch – zusammen mit mir – unterwegs ist: das ist eine erste Herausforderung. Es bedeutet unter anderem auch die Erkenntnis machen, dass ich gar nicht überlebensfähig wäre ohne andere. Mein Bedürfnis nach unverwechselbarer Eigenständigkeit und Autonomie ist zwar wichtig und richtig. Unabhängigkeit ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist das Bedürfnis nach Kooperation, Akzeptiert- und Aufgehobensein. Je nach Situation richte ich meine Anstrengungen eher auf das Herstellen der einen oder der anderen Seite der Medaille.

Die Frage, wie ich eigenständig und autonom bin, kann ich erstmal mit mir selbst ausmachen. Da geht es um meine persönlichen Lebensentwürfe. Damit mein Bedürfnis nach Kooperation, Akzeptiert- und Aufgehobensein zum Tragen kommt, brauche ich andere Menschen, ja eine ganze Gesellschaft. Denn aufgehoben fühle ich mich erst, wenn ich Essen, Kleidung, Obdach habe und Gesundheit, Bildung, Kultur zugänglich sind. Wer bestimmt, welche dieser Güter unter welchen Bedingungen hergestellt und zugänglich gemacht werden? Wer ist aktiv beteiligt an der Herstellung und Verteilung dieser Güter? Wer bekommt wie Zugang dazu? Diese komplexe Organisation kann nach unterschiedlichen Prinzipien gestaltet werden. ‘Demokratie denken’ setzt da an und schlägt vor, dass wir das gemeinsam verhandeln und entscheiden.

Für das Jahr 2021 hoffe ich, dass ganz viele Personen sich Gedanken dazu machen, wie es war, als Schweizer immer wieder entschieden, dass nur Männer diese Verhandlungen führen und Entscheidungen treffen. Eine Realität, die ich als Mädchen erlebt habe. Mir war zum Beispiel überhaupt nicht erklärbar, dass meine Mutter, die unsere Familie ‘schmiss’, am Abstimmungssonntag kein Couvert einwerfen durfte und mit uns Kindern vor dem Abstimmungslokal warten musste, bis mein Vater wieder herauskam. Das prägt. Ich frage mich deshalb immer wieder, wo mir jeweils Rückstände davon wieder begegnen.

Ich freue mich auch sehr auf alle Erzählungen, wie sich die Beteiligung der Schweizerinnen nach dem 7. Februar 1971 realisiert und ausgewirkt hat. Es hat mich also auch geprägt, dass ich ein Abstimmungscouvert mit meinem Namen bekommen habe, wo ich eingeladen wurde, meine Meinung kundzutun. Unsere direkte Demokratie gibt mir viermal im Jahr die Möglichkeit, in den unterschiedlichsten Themen mitzuentscheiden. Unsere Gesellschaft geht davon aus, dass mündige Schweizerinnen und Schweizer das Volk bilden und das Sagen haben sollen.

Die unterschiedlichen Lebensrealitäten, Weltanschauungen, Hintergründe, Interessen kommen da zusammen. Keine einfache Sache, das unter einen Hut zu bringen und einen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen! Wo und wie ist es gelungen? Wo und wie sehe ich Verschönerungsbedarf? Alle diese Einschätzungen sind von Bedeutung und gehören in einen gemeinsamen Diskurs. Das hält die Demokratie wach und lebendig.

Als wir mit den Vorbereitungen auf das Jahr 2021 starteten, musste ich immer wieder erklären, warum denn die Frage nach der Beteiligung der Menschen in einer Demokratie wichtig sei. Sehr oft stellte ich fest, dass viele davon ausgehen, dass es bei uns ‘so ist’ und dass dies auch gar nicht in Frage gestellt wird.

Das Corona-Virus hat uns auch in dieser Frage eingeholt. Das ‘Demokratie denken’ hat dramatisch an Aktualität gewonnen. Wer hätte noch vor zwei Monaten denken können, dass die Schweizer Armee mobilisiert wird, der Bundesrat Notverordnungen erlässt und unsere Grenzen geschlossen werden? Die Parlamentssession wurde abgebrochen und eine neue Session unter völlig neuen organisatorischen Bedingungen eingeladen. Offen ist, wann nächste Abstimmungen und Wahlen durchgeführt werden können, weil die vorbereitende Meinungsbildung nur sehr eingeschränkt stattfinden kann.

Wir können also nicht einfach weitermachen, wie wir uns gewöhnt sind. Damit die Demokratie funktioniert, müssen wir neue Überlegungen anstellen und herausfinden, wie wir die Mitgestaltung des Volkes garantieren wollen. Damit wir gestalten können, müssen sich auch viele äussern. Ich muss wahrnehmen können, was unterschiedliche Meinungen sind, welche Argumente angeführt werden, wessen Interessen ins Spiel kommen. Wenn ich da aktuell die Sprechenden betrachte, fällt mir auf, dass es – nicht nur in der Schweiz – überwiegend Männer sind. Ausnahmen sind Frauen, die ein Amt bekleiden: unsere Bundespräsidentin, unsere Justizministerin, unsere Verteidigungsministerin, die Präsidentin der ErziehungsdirektorInnen-Konferenz, die Präsidentin der GesundheitsdirektorInnen-Konferenz, die Präsidentin des Nationalrates, die Staatssekretärin im Seco (habe ich eine Frau vergessen?). In den anderen Positionen finden sich Männer.

Zusätzlich sind Fachpersonen gefragt aus dem Gesundheits-, Versorgungs-, Wirtschafts-, Kultur-, Sport-, Transport-, Rechts-, …bereich. Leider sind es auch da in den meisten Fällen Männer, die ihre Haltung und Einschätzung präsentieren. Wichtig ist mir, dass wir in einen tatsächlichen Dialog kommen. Ich will auch Fachfrauen hören und ich will die Stimme der Frauen wahrnehmen können, wo – in ihrer ganzen Vielfalt – die Themen eingebracht werden, die auch für Frauen von Bedeutung sind. Ein gutes demokratisches Miteinander heisst auch, dass Männer dies wahrnehmen und einfordern. Das bringt unsere Demokratie vorwärts.

Ich freue mich über alle Beiträge von Frauen und Männern, die unser gemeinschaftliches Leben reflektieren. Das ist brandaktuell und spannend. Bis zum 50 Jahre-Jubiläum des Frauenstimmrechts am 7. Februar 2021 hat unsere Demokratie noch viel zu leisten: Wir wollen gemeinsam eine Zukunft mit Corona haben. Dazu brauchen wir die Energie und die Ideen von allen.

Bleiben Sie gesund. Denken Sie Demokratie weiter.