Hochkarätige unsichtbare Frauen – Regula Stämpfli und Isabel Rohner berichten vom FRAUENRÜTLI

Ein historischer Ort, ein historischer Anlass, ein historischer Tag: Am 1. August 2021 gehörte das Rütli, die wohl geschichtsträchtigste Wiese der Schweiz, den Frauen. Das gab es noch nie! Auf Einladung der Frauendachorganisation AllianceF feierten 600 hochkarätige, engagierte Frauen aus der ganzen Schweiz 50 Jahre Frauenstimmrecht. Das bedeutet 50 Jahre Demokratie, denn wir können nicht von einer Demokratie sprechen, wenn die Hälfte der Menschen kein aktives und passives Wahlrecht hat.

Bis 1971 waren die Frauen in der Schweiz von der Gesetzgebung ausgeschlossen. Das heisst: Alle Gesetze, die entstanden sind, wurden erarbeitet, ohne die Interessen der Frauen zu berücksichtigen. Kein Wunder also, waren viele, viel zu viele Gesetze gegen die Interessen der Frauen – und viele dieser Gesetze wirken bis heute nach. Man denke nur an die bis heute fehlende Individualbesteuerung, man denke an die fehlende gleichberechtigte Elternzeit. Man denke aber auch an das frauenverachtende Eherecht, das in der Schweiz noch bis 1988 galt und Ehefrauen schlicht zu den Sklavinnen ihrer Männer machte. 50 Jahre Frauenstimmrecht – das bedeutet auch 50 Jahre Ende der männlichen Vormundschaft, 50 Jahre Basis einer Gleichberechtigung, die wir hoffentlich irgendwann einmal erleben. 1971 – das war das Ende eines schrecklichen Unrechts, das den Frauen angetan wurde, indem ihnen Menschenrechte vorenthalten wurden. Ein Unrecht, das nachwirkt – und das endlich offiziell vom Bund anerkannt gehört. Doch dass das Jubiläum sichtbar wurde, ist privaten Initiativen wie CH2021 zu verdanken und eben den Frauenverbänden. Der Bund hat bislang versagt und eine historische Chance zur Aufarbeitung der Geschichte ignoriert.

Es ist schade, dass diese politische Dimension auf dem Frauenrütli leider kaum eine Rolle spielte: AllianceF und die kooperierenden Frauenorganisationen* hatten sich für ein Konzept entschieden, das nicht die Machtfrage ins Zentrum rückte und starke Bilder von politischen Frauen mit klaren Aussagen und Forderungen produzierte, sondern die fröhliche Vielfalt. Sie wollten das Rütli buchstäblich einmal anders gestalten. Und ja: Es war ja auch ein fröhlicher Anlass und viele Frauen nutzten den Tag für eine ausgelassene Feier im Regen.

Isabel Rohner mit Zita Küng, Präsidentin CH2021

Wir allerdings, wir hätten uns zugegeben mehr politisches BÄMM! gewünscht. Mit Viola Amherd und Simonetta Sommaruga haben gleich zwei Bundesrätinnen den Tag begleitet, mehrere Nationalrätinnen waren anwesend, dazu die Spitzen der Frauenverbände. Doch es sollte auf Macht und Hierarchien verzichtet werden – und so gab es keine schlagkräftige Keynote, kein Betonen von Funktionen, kein öffentliches Streitgespräch, keine Kampfansagen, sondern nur kleine Talks in familiärem Rahmen für ca. 20 Personen. Es war Isabel Rohner (Mitherausgeberin von „50 Jahre Frauenstimmrecht“), die in diesem kleinen Talk mit Bundesrätin Sommaruga übrigens die Frage nach der offiziellen Anerkennung und Entschuldigung durch den Bund auf den Tisch brachte. „Ja, den Frauen ist hier Unrecht geschehen“, antwortete Simonetta Sommaruga. Doch wichtiger als eine Entschuldigung für vergangenes Leid sei die Beseitigung heutiger Missstände.

Doch das Eine geht nicht ohne das Andere.

So sehr auch wir den Tag und die vielen Gespräche mit großartigen Frauen genossen haben und wir den Einsatz von AllianceF wertschätzen: Wir hätten uns gewünscht, dass der Anlass auch stärker dazu genutzt worden wäre, die Frauen sichtbar zu machen, die sich in den vergangenen Jahren so stark für dieses Jubiläum eingesetzt haben. Dazu hätte auch ganz klar Zita Küng, die Präsidentin von CH2021 gehört, und – bei aller Bescheidenheit – auch die Macherinnen des Buches „50 Jahre Frauenstimmrecht“ und von „Die Podcastin“.

Stattdessen wurden vier Frauen aus den vier Landesregionen ausgezeichnet – und dies „per Los“. Man wollte eben auch keine Hierarchie des Engagements.

Und auch die Berichterstattung war – mit wenigen Ausnahmen – erschreckend unpolitisch: „Vegi-Lunch statt Cervelat“ überschrieb die Tagesschau ihren Bericht. Was für eine Verkennung, worum es an diesem Tag eigentlich ging.

Zu den Autorinnen:

Politphilosophin Dr. Regula Stämpfli und Frauengeschichtsexpertin Dr. Isabel Rohner sind die Macherinnen von „Die Podcastin – der feministische Wochenrückblick“. Dem Frauenrütli widmen sie eine ganze Folge. Nachzuhören auf www.diepodcastin.de

Regula Stämpfli und Isabel Rohner

* dazu gehören: die Evangelischen Frauen Schweiz EFS, der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband SBLV, der Dachverband Schweizerischer Gemeinnütziger Frauen SGF, der Schweizerische Katholische Frauenbund SKF, CH2021 und die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF.