Initiative Frauenstimmen: Was bedeutet es für Frauen in der Schweiz, eine Stimme zu haben?

Wenn wir auf 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz zurückblicken, so tun wir dies unabdingbar aus zwei unterschiedlichen Sichtweisen. Wir zelebrieren zu Recht, was sich verbessert hat – und die Menschen, die dazu beigetragen haben. Aber wir betrachten auch all jene offenen Punkte, die sich über ein halbes Jahrhundert hinweg nur langsam oder gar nicht verändert haben, und die es noch zu verbessern gilt. Dadurch schauen wir nicht nur zurück, sondern auch nach vorne. Die Initiative Frauenstimmen widmet sich diesen unterschiedlichen Perspektiven und verschafft ihnen einen sprachwissenschaftlichen Fokus.

Die Initiative, am Center for the Study of Language and Society (CSLS) der Universität Bern angesiedelt, widmet sich einer scheinbar simplen Beobachtung: Frauenstimmrecht bedeutet noch lange nicht, dass Frauenstimmen auch gehört werden.

Daraus ergeben sich aber unzählige Fragen. Auf welche Weise werden Frauenstimmen nicht – oder weniger, oder anders – wahrgenommen? Weshalb ist das so? Und was bedeutet es überhaupt, gehört zu werden? Was bedeutet es, eine Stimme zu haben?

Die Initiative Frauenstimmen ist seit Mitte Juli auf Instagram und Facebook unter dem Namen @womensvoices.ch aktiv und bietet Einblicke in die sprachwissenschaftliche Forschung zu Gender, Sexismus und Gleichstellung. Wir schauen uns an, wie Sprache zur Erhaltung von Stereotypen, Geschlechterrollen und Diskriminierung beiträgt, aber auch wie Sprache die Gesellschaft zu verändern vermag.

Die Beziehung zwischen Sprache und Geschlecht lässt sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen untersuchen. Etwa im Sprechverhalten: In einer amerikanischen Studie (die passenderweise 50 Jahre alt ist), haben Candace West und Don Zimmermann beispielsweise Zweiergespräche zwischen Frauen und Männern beobachtet und gezählt, wer wie oft unterbrochen wurde. 96 Prozent aller Unterbrechungen kamen vom männlichen Gesprächspartner aus! Die Situation mag sich verbessert haben, aber noch heute beläuft sich in vergleichbaren Studien der männliche Anteil an Unterbrechungen auf rund 80 Prozent.

Dies hat damit zu tun, dass wir von klein auf dazu sozialisiert werden zu glauben, dass Gesprächsbeiträge von Männern gewichtiger sind als jene von Frauen – und sich die Geschlechter oft auch danach verhalten. Alecia Carter berichtete 2018, dass Wortmeldungen an Universitätsvorlesungen europaweit zu über 70 Prozent von Männern stammen. Und wenn Frauen Durchsetzungsvermögen zeigen oder sich stärker in Diskussionen einbringen? Dann werden sie als ‘aggressiv’ oder als ‘Plaudertaschen’ abgestempelt.

Problematisch ist auch der Sprachgebrauch, also welche Wörter wir für Männer und Frauen brauchen. So haben aus historischer Sicht viele Bezeichnungen für Frauen eine Verschlechterung in ihrer Bedeutung erfahren. Im Althochdeutschen war ein ‘Wib’ (heute: Weib) einfach eine Frau, die ‘Frouwa’ (heute: Frau) war adelig – und die ‘Diorna’ (heute: Dirne) bezeichnete lediglich ein junges Mädchen.

Selbst auf einer strukturellen Ebene reflektiert Sprache oft eine sexistische Weltsicht, indem sie Männer als Norm und Frauen als Sonderfall behandelt. Ein Pilot und zwei Pilotinnen? Das sind – der Einfachheit zuliebe – meistens einfach drei Piloten. Und eine Frauschaft anstelle einer Mannschaft rutscht vielen noch nur schwer über die Zunge. Durch solche sprachlichen Barrieren sind Frauen nach wie vor weniger sichtbar und weniger hörbar.

Am CSLS sind wir überzeugt, dass ein besseres Verständnis des Zusammenspiels zwischen Sprache und Gesellschaft ein zentrales Element in der Bekämpfung sozialer Ungleichheit darstellt. Und ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Besserung ist Zuhören.

Die Initiative Frauenstimmen ruft ihre Follower*innen im September dazu auf, ihre Stimmen mit uns zu teilen – in Form von Kommentaren oder Videobotschaften auf Instagram und Facebook. Wir möchten wissen, was es für Frauen* in der Schweiz bedeutet, eine Stimme zu haben. Wozu sie ihre Stimmen nutzen. Und was es braucht, damit ihre Stimmen endlich von allen als gleichberechtigt wahrgenommen werden.

Denn am besten feiern wir die Schweizer Pionierinnen der Gleichberechtigung, indem wir allen eine ebenbürtige Stimme verschaffen.

Mehr Informationen zur Initiative und unserem Aufruf unter: www.womensvoices.ch

Der Autor:

Christoph Neuenschwander ist Forscher am Center for the Study of Langauge and Society und Koordinator der Master- und Doktoratsprogramme in Soziolinguistik. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit beschäftigt er sich hauptsächlich mit Sprachwahrnehmung und Ideologien, Diskriminierung und der diskursiven Produktion von Gender. In der Initiative Frauenstimmen arbeitet er zusammen mit Ella Spadaro, Erez Levon, Mathis Wetzel, Melissa Guglielmo und Olivia Schär.

Was sich in 50 Jahren alles ändern kann…

Nein, ich war weder glücklich noch froh über die Einführung des Frauenstimmrechts, damals vor 50 Jahren. Zwei kleine Kinder und der Haushalt forderten mich voll und ganz. Zudem war ich noch absolut verhaftet in der Vorstellung, als Hausfrau und Mutter müsste ich mindestens perfekt sein.

Wie sollte ich mir da eine weitere Herausforderung wünschen? Abstimmen und Wählen – welche Verantwortung! Die Wichtigkeit dieses Privilegs prägte sich mir in der Kindheit tief ein. Mein Vater hielt seine Entscheidungen in dieser Sache immer strikt geheim. Niemand, gewiss auch nicht meine Mutter, durfte da Bescheid wissen und ihn politisch einordnen. Er fühlte die Gefahr, seine Freiheit und Stellung in der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen! Und ob Frauen für diese Verantwortung geeignet wären? Klar geäussert hat er sich nie dazu, aber Schweigen sagt oft mehr als viele Worte. Wie wohl meine Mutter dazu stand? Heute weiss ich, es gab viele Dinge, an denen sie interessiert war. Aber auch sie hielt sich während ihrer Ehe strikt an das unumstössliche Gesetz der Rolle einer traditionellen Ehefrau. Eine drei- und vierfache Belastung gehörte halt dazu! Mein Interesse an der Politik und dem Weltgeschehen war aber gross. Das Radio spielte dabei eine wichtige Rolle. Zuhören konnten uns die Männer ja nicht verbieten und auf die Nachrichten und das ‘Echo der Zeit’ wollten sie nicht verzichten. Das waren wichtige Quellen, wo sonst hätten sie sich informieren können? Und wir hörten mit.

Die stolze Darstellung der Schweiz als älteste Demokratie hinterfragte ich erst später. Noch heute ärgere ich mich, dass über diese Formulierung weder gesprochen noch ihr widersprochen wird.

Wie schlimm fand ich es im Geschichtsunterricht, dass früher die Männer der Landbevölkerung nicht mitbestimmen durften. Aber dass dies für alle Frauen ebenso und noch Jahrhunderte später immer noch galt, sah ich damals nicht.

Erst die Warum-Fragen meiner Kinder liessen mich erkennen, dass auch ich Fragen stellen durfte und das Hinterfragen gar eine Notwendigkeit für mein weiteres Dasein schuf. Schritt für Schritt fand ich den Weg zum eigenen Denken! Hinter der weichgespülten, angepassten Frau entdeckte ich meine eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Weg von den traditionellen Strukturen und dem gängigen Denken und Handeln. Der Wandel hin zur Eigenständigkeit verlief erfolgreich. Ich  bezeichne mich heute als emanzipierte Frau und Feministin. Als eine der Gründerinnen der feministischen fakultät blicke ich mit Stolz auf unsere erfolgreichen feministischen Lehrgänge und weitere Angebote. Das Interesse an feministischen Themen wächst. Frauen* spüren, dass etwas fehlt und sind bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Sie wollen Hinaus aus der Beschneidung unserer Ansprüche und Begehrlichkeiten. Eine nächste Gelegenheit bietet der 5. feministische Lehrgang, der eben ausgeschrieben wurde.

Dass sie damit im Recht sind zeigt z.B. die Diskussion um Quoten für Frauen in verschiedenen Bereichen. Die Abneigung überwiegt noch immer. Dass die Schweiz nur Quotenbundesräte kennt ist kein Thema. Jeder Landesteil, die Kantone und die Parteizugehörigkeit müssen unbestritten in gebührendem Masse berücksichtigt werden! Damit sind die Voraussetzungen für Männer gesetzt, politisches Geschick eine Nebensache. Führten diese Parameter zur Auslese der Besten? Mein Fragezeichen ist gross.

Das Fehlen der Frauen in der Politik ist so alt wie die Idee der Demokratie. Diese politische Ordnung wurde von alten griechischen und freien Männern mit Erfolg geschaffen. Noch immer finde ich demokratische Werte und Strukturen die beste Form, wie ein Zusammenleben verschiedener Menschen geregelt werden kann. Der Wortteil Demo hat sich mir als etwas Positives eingeprägt. Anders geht es mir mit kratie – dagegen spürte ich immer einen Widerstand. Zeit, diesem Gefühl nachzugehen. Bei Wikipedia und Co. fand Folgendes:

Demos (griechisch δῆμος dēmos, meist als „Staatsvolk„) aufgefasst, im Gegensatz zu ἔθνος éthnos „Volk“. Auch ohne Stimm- und Wahlrecht betrachtete ich mich als Schweizerin, also dem Staatsvolk zugehörig. Darin fühlte ich mich sicher und aufgehoben.

Kratos (griechisch Κράτος, Macht, Stärke) ist in der griechischen Mythologie die Personifikation der Macht und rohen Gewalt. Bei Hyginus wird er mit lateinischem Namen Potestas genannt. Bezeichnet heute Herrschaftsformen, politische Ordnungen oder politische Systeme, bei denen Macht und Regierung vom Volk ausgehen (Volksherrschaften).

Und da ist er wieder, der Begriff HERRschaft! Es waren einige wenige, freie und ausgesuchte Männer, die in einem elitären Kreis nach einer ihnen gefälligen Regierungsform suchten. Zwischen ihnen und den Frauenmenschen sowie den Sklavenmenschen bestand eine Trennlinie. Soweit uns bekannt ist, wurde diese Art Mensch weder in die Diskussion einbezogen noch wurde ihrem Dasein und ihren Bedürfnissen eine Bedeutung für den Staat und seine Funktion beigemessen. Ich würde sagen, diese alten Philosophen waren Sexisten und Vertreter eines Kastendenkens. Und mit diesen Bewusstseinslücken schufen sie – eben – die Demokratie.

Ich plädiere für ein neues Wortbild, in welchem alle Bewohnerinnen* eines Staates angesprochen werden. Schluss mit dem Mann als Massstab, an dem alles gemessen wird. Wie wäre es, wenn Frauen (und Männer?) im Jahr des 50jährigen Stimm- und Wahlrechts lustvoll und kreativ einen neuen Begriff in das patriarchale Sprachnetz einbringen würden?

Über Erika Bachmann

  • Langjährige überzeugte Feministin, Absolventin des European Women’s College, Zürich
  • Co-Initiatorin der fem! Ehrenmitglied auf Lebenszeit