„…damit wir uns mit der Geschichte unserer Demokratie auseinandersetzen!“

Ein weiteres Buch zu «50 Jahre Frauenstimmrecht» ist druckfrisch erschienen im Limmat Verlag: 25 Frauen äussern sich zu Demokratie, Macht und Gleichberechtigung! Eine Kulturwissenschaftlerin und eine Journalistin haben diese Zeitzeugnisse zusammengetragen, Isabel Rohner in Berlin und Irène Schäppi in Zürich. Welche Absichten verfolgen sie mit diesem Buch, wie haben sie die Stimmen ausgewählt, warum haben sie das Buch zu zweit erarbeitet? Cécile Speitel hat mit den Herausgeberinnen via Zoom gesprochen.

Cécile Speitel: Isabel Rohner und Irène Schäppi, wie haben Sie sich für dieses Buch gefunden?

Isabel Rohner: Für mich war es wichtig, eine patente Partnerin zu finden, die ganz anders aufgestellt ist als ich, die nicht aus der Geschichtsforschung kommt, sondern aus dem Journalismus. Deshalb habe ich mich an Irène Schäppi gewendet.

CS: Und wie haben Sie, Irène Schäppi, reagiert?

Irène Schäppi: Ich freute mich sehr über ihre Anfrage, gleichzeitig hatte ich Riesenrespekt. Ich gelte in der Schweizer Journalismus-Szene nicht als Expertin für Frauenthemen, weil ich als Journalistin hauptberuflich Lifestyle-Themen betreue, aber privat habe ich mich immer dafür interessiert. An «50 Jahre Frauenstimmrecht» mitzuarbeiten, war und ist eine Möglichkeit, meinem Umfeld zu zeigen, dass noch anderes in mir steckt.

Isabel Rohner: Ich war der festen Überzeugung, ein solches Projekt darf nicht in der Academia stecken bleiben. Das Buch brauchte ein Herausgeberinnen-Team, das eine grosse Bandbreite abdeckt, weil feministische Themen, die Geschichte der Frauenbewegung, die Beschäftigung mit Demokratie und Frauenrechten, alle Frauen in der Schweiz betrifft. Wir wollten unsere beiden Stärken zusammenbringen.

CS: Sie haben aus vielen möglichen Namen 25 Frauen ausgewählt. Wie sind Sie mit Ihrem Anspruch auf eine grosse Bandbreite vorgegangen?

Irène Schäppi: Wir haben beide Vorschläge gemacht und uns aufgrund unserer sehr unterschiedlichen Hintergründe sowie Schwerpunkten dabei sehr gut ergänzt. Wir haben uns lange über jede einzelne Person unterhalten. Uns war wichtig, «jede» Frau an Bord zu bekommen –  ich versuche das mal pointiert auszudrücken: von der Oma bis zur Enkelin, egal welches Berufsfeld, welcher kultureller Hintergrund. Darum haben wir auch bestimmte Celebrities angefragt wie Christa Rigozzi, die frühere Miss Schweiz.

Isabel Rohner: Wir haben uns für die Bereiche Recht, Wirtschaft, Kultur, Politik, Journalismus und Diplomatie entschieden. Ich gestehe: Einige Frauen, die Irène vorgeschlagen hat und die wir jetzt im Buch haben, kannte ich gar nicht, weil ich seit zwanzig Jahren nicht mehr in der Schweiz lebe – und Irène ging es bei einigen meiner Vorschläge aus Wissenschaft und Wirtschaft genau so. Ich bin Irène enorm dankbar für diese Entdeckungen, z.B. Lea Lu, die grossartige Sängerin und Songwriterin, von der ich Fan geworden bin und die für unser Buch extra das Lied «We Have A Voice» geschrieben hat.

Foto: Claudio Strüby

CS: Die Moderatorin Christa Rigozzi stammt aus dem Tessin, die Verwaltungsrätin und Wissenschaftlerin Adrienne Corboud Fumagalli und ihre Tochter Clelia, Juristin – sie reden über Normen, Karriere und Familie – , kommen aus der Suisse Romande…  

Irène Schäppi: Wir haben sehr darauf geachtet, Frauen aus allen Landesteilen anzufragen. Aus Graubünden stammt Fanni Fetzer, die Direktorin vom Kunstmuseum Luzern. Es sind auch Personen dabei, die Migrationshintergrund haben oder mit mehreren Nationalitäten.

CS: In den verschiedenen Portraits, Gesprächen oder Text-Beiträgen ist mir das Wort «Vorurteil» oftmals aufgefallen. Die Frauen unterschiedlicher Generationen stellen fest, wie häufig Vorurteile in der Gesellschaft noch vorhanden sind gegenüber ihrem Auftreten, ihren Leistungen.

Isabel Rohner: Ja, Vorurteile gegenüber Frauen werden in vielen Beiträgen thematisiert. Ein anderer Aspekt, der mir bei unseren Begegnungen aufgefallen ist, ist Humor. Viele Frauen, gerade die Pionierinnen, die erste Bundesrätin Elisabeth Kopp oder die erste Bundesrichterin Margrith Bigler-Eggenberger, verfügen über einen ausgeprägten Humor. Bei den persönlichen Treffen haben wir auch nachgefragt, ob ihnen der Humor auf ihrem Weg geholfen hat  – und fast alle haben dies bejaht. Dieser Druck, der auf diesen ersten Frauen lastete, der war ja nochmals viel, viel stärker als der heutige Druck, den Frauen immer noch spüren. Aber allein zu sein, immer angegriffen zu werden, immer als anders wahrgenommen zu werden, immer als unterschiedlich zur Norm bewertet zu werden  Margrit Bigler-Eggenberger zum Beispiel hat als Bundesrichterin erlebt, dass Kollegen nicht mit ihr gesprochen haben, weil sie eine Frau war das sind Erfahrungen, die nur ganz starke Persönlichkeiten aushalten konnten. Und Persönlichkeiten mit Humor.

Irène Schäppi: Auch was Frauen heute noch aushalten müssen, hat mich aufgewühlt, z.B. Nathalie Wappler, die Direktorin Schweizer Radio und Fernsehen, im Vergleich dazu, wenn ein Mann an ihrer Stelle sitzen würde er würde nicht in diesem Ausmass kritisiert. Oder wie Lea Lou, die von der SVP als Kampagnengesicht missbraucht worden ist, das wäre einem männlichen Sänger niemals passiert, ich glaube nicht, dass Baschi oder Crimer damit hätten rechnen müssen. Ich finde es heftig, dass in der Schweiz, die sich fortschrittlich und betont demokratisch gibt, die «White Old Men» so stark verankert sind. Die Arbeit an diesem Buch hat mich ein bisschen aus der Bubble auftauchen und die Realität krass wahrnehmen lassen. Ich selbst bin durch die Arbeit an diesem Buch noch politischer geworden.

CS: Sie haben das Buch Ihren Müttern und Grossmüttern gewidmet…

Isabel Rohner: Ja, sehr bewusst. Wir verdanken unseren Müttern und Grossmüttern die Möglichkeiten, die wir heute haben. Wir wollen das Buch aber tatsächlich allen Frauen widmen. Wir wollten ein Buch machen, das nicht nur in feministischen Vereinen gelesen wird, sondern von einer breiten Öffentlichkeit. Das Buch nimmt die Leserinnen und Leser mit in die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Frauen in der Schweiz. Frauenrechte gehen wirklich alle an, Frauen wie Männer. Und Frauen ganz besonders sollten sich mit der Geschichte unserer Demokratie in der Schweiz auseinandersetzen, mit unseren Lebensbereichen, wo es immer noch eine grosse Rolle spielt, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Es betrifft wirklich alle, ob wir wollen oder nicht.

Irene Schäppi: Ich finde zudem, unser Buch inspiriert zum Lesen und sich Weiterbilden, dient aber auch als Nachschlagewerk oder einfach, um darin zu schmökern und Entdeckungen zu machen, wie etwa die Comics von Serpentina Hagner oder eindrückliche Zitate.

Isabel Rohner: Was uns wichtig war: Wir haben viele der Frauen auch nach ganz konkreten Tipps gefragt für den Alltag, für beruflichen Erfolg, für durchsetzungsfähiges Handeln in Männerrunden, Frauen aus der Wirtschaft wie Bea Knecht, aus der Filmbranche wie Petra Volpe oder aus der Politik wie Viola Amherd und Samira Marti. Viele unserer Beiträgerinnen haben aus ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld Empfehlungen zusammengestellt, die sie jüngeren Frauen weitergeben wollen. Die Leserinnen sollen konkrete Ermutigungen finden, um die Zukunft zu gestalten und sie zu verändern.

«Zeigt Mut. Werdet Expertinnen. Nutzt Werkzeuge. Kommuniziert direkt. Übt Resilienz.» Bea Knecht, Unternehmerin

«Die Geschichte der Frauen ist keine kleine Nebengeschichte. Das ist eine grosse Geschichte, die viel aussagt über unser Land.» Petra Volpe, Regisseurin

«Als ich Clownin werden wollte, war der meistgehörte Satz: Männer sind komisch, Frauen sind tragisch. Biologisch bedingt!» Gardi Hutter, Clownin

Comic aus „Eine Strassenumfrage“, 1970 von Serpentina Hagner, Comiczeichnerin

Die Herausgeberinnen

Dr. Isabel Rohner wurde 1979 in St. Gallen geboren. Sie studierte in Zürich und Köln Germanistik, Romanistik und Philosophie und promovierte in Giessen über die Werkrezeption der feministischen Pionierin Hedwig Dohm (1831–1919). Zusammen mit Nikola Müller gibt sie die Edition Hedwig Dohm heraus. Sie ist zudem die Autorin der Dohm-Biografie «Spuren ins Jetzt» sowie Herausgeberin und Initiatorin des Sammelbandes «100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht! … und weiter?» (beides Ulrike Helmer Verlag) über das Jubiläum in Deutschland. Zusammen mit der Politphilosophin Dr. Regula Stämpfli ist sie Host des wöchentlichen feministischen Podcasts «Die Podcastin».

Isabel Rohner (Foto: Christian Kruppa)

Irène Schäppi, geboren 1978 in St. Gallen, hat an der Universität Zürich Germanistik und Publizistik studiert und leitet seit 2009 das Beauty-Ressort von «20 Minuten». Damit gehört Irène Schäppi zu den wichtigsten Vertreterinnen des Schweizer Lifestyle-Journalismus. Als Frau für die Promi-Interviews – darunter unter anderen Hollywoodikone und Politaktivistin Jane Fonda – und internationale Beauty- sowie Lifestylereportagen ist sie bestens vernetzt, analog wie digital.

Irène Schäppi (Foto: Xandra M. Linsin)

50 Jahre Frauenstimmrecht – 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung, Herausgeberinnen Isabel Rohner / Irène Schäppi

Mit Porträts, Gesprächen und Beiträgen von Viola Amherd, Kathrin Bertschy, Margrith Bigler-Eggenberger, Adrienne Corboud, Fanni Fetzer, Fina Girard, Serpentina Hagner, Gardi Hutter, Cloé Jans, Anne-Sophie Keller, Bea Knecht, Elisabeth Kopp, Zita Küng, Lea Lu, Andrea Maihofer, Samira Marti, Christa Rigozzi, Ellen Ringier, Isabel Rohner, Irène Schäppi, Christine Schraner Burgener, Regula Stämpfli, Katja Stauber, Petra Volpe und Nathalie Wappler

Erschienen im Limmat-Verlag, November 2020

Andrea Maihofer und Zita Küng mit ihren Beiträgen sind Mitbegründerinnen und Vorstandsmitglieder vom Verein CH2021.

Gewinnspiel: Auf Facebook verlosen übrigens wir zwei Buchexemplare. Nehmen Sie hier an der Verlosung teil.

Katharina Zenhäusern (1919-2014)

Die Walliserin Katharina Zenhäusern und 32 weitere Frauen stimmen 1957 an der Urne über die Zivilschutzpflicht für Frauen ab. Da den Schweizer Frauen die politischen Rechte noch immer vorenthalten werden, handelt es sich um einen Akt des zivilen Ungehorsams. Die Protestaktion in Unterbäch erregt Aufmerksamkeit über die Landesgrenzen hinaus.

Quelle: EKF, Eidgenössische Kommission für Frauenfragen

Am 3. März 1957 findet die eidgenössische Abstimmung über die «Einführung der obligatorischen Schutzdienstpflicht weiblicher Personen» statt. Die Schweizer Männer stimmen über eine Vorlage ab, die ausschliesslich Frauen betrifft. Frauenrechtlerinnen und Frauenorganisationen sind empört und protestieren: «Keine neuen Pflichten ohne Rechte!».

Am Abend des 2. März 1957 legt Katharina Zenhäusern dann in Unterbäch als erste Frau überhaupt einen Stimmzettel in eine Schweizer Abstimmungsurne. Zum Zeitpunkt der Abstimmung ist sie 37 Jahre alt, in der Landwirtschaft tätig und mit dem Gemeindepräsidenten Paul Zenhäusern verheiratet. «Irgendeine musste ja den Anfang machen», erinnert sie sich später. Auch ihre 80-jährige Mutter stimmt an diesem Abend ab. Insgesamt nehmen 33 der 106 Frauen der Gemeinde an der Abstimmung teil, begleitet von Buhrufen. Die Beschimpfungen – durch Männer und Frauen – halten teilweise noch Tage an. Die Abstimmung von Unterbäch erregt auch mediales Auf-sehen. Medienschaffende aus Asien und den USA sind anwesend und fotografieren. Sogar die New York Times berichtet von der Sensation.

Doch wie kommt es dazu, dass ausgerechnet die Frauen der Oberwalliser Gemeinde Unterbäch zu Vorkämpferinnen für die politischen Rechte der Frauen wurden? Ein Grund liegt sicher in der wirtschaftlichen Situation der Bergregion. Da Arbeitsstellen rar sind, verlassen viele Männer ihre Dörfer, um als Saisonniers in den Weinreben, Obstgärten oder als Tunnelbauer zu arbeiten. Meist bleiben sie mehrere Monate von zuhause fern. In dieser Zeit kümmern sich die Frauen um den Haushalt, die Feldarbeit, die Kinder und die Geschäfte und verfügen daher über beträchtliche Entscheidungsfreiheiten. Ein zweiter Grund ist die politische Zusammenarbeit mit Iris und Peter von Roten, die in Raron, einer Nachbargemeinde von Unterbäch wohnen und immer wieder öffentlich für die Gleichberechtigung der Frauen eintreten.

Tatsächlich berät Peter von Roten mit dem Gemeindepräsidenten und Grossrat Paul Zenhäusern die anstehende Abstimmung. Die beiden haben im Kanton bereits früher zwei Motionen für das Frauenstimm- und -wahlrecht eingereicht – ohne Erfolg. Jetzt wollen sie die Frauen von Unterbäch an der eidgenössischen Abstimmung teilhaben lassen. Sie fragen den Bundesrichter Werner Stocker um Rat. Dieser beurteilt die Teilnahme der Frauen an einer eidgenössischen Abstimmung als vereinbar mit dem Verfassungsartikel zu den politischen Rechten, einzige Voraussetzung sei der Eintrag im Stimmregister der Gemeinde. Und so beschliesst der Gemeinderat am 6. Februar 1957, die Frauen ins Stimmregister der Gemeinde Unterbäch einzutragen und eine separate Urne für ihre Stimmen aufzustellen. Im Protokoll der Gemeinderatssitzung heisst es dazu: «Der Anstand und der gute Ton verlangen es in diesem Falle besonders, dass wir Männer uns nicht als Vormünder benehmen, sondern Rechte und Pflichten unserer Frauen in Einklang bringen». Da das Führen der Stimmregister in der Verantwortung der Gemeinden liegt, beruft sich der Gemeinderat auf die Gemeindeautonomie. Das Walliser Wahlgesetz schliesst nur sogenannte Zuchthäusler oder Armengenössige von der Ausübung der politischen Rechte aus – Frauen sind nicht erwähnt. Die Walliser Kantonsregierung und der Bundesrat sind nicht erfreut: der Plan sei verfassungswidrig. Trotzdem wird in Unterbäch am Vorhaben festgehalten. Auch einige andere Gemeinden (Siders, Martigny-Bourg, Lugano, La Tour-de-Peilz und Niederdorf BL) lassen Frauen konsultativ abstimmen; Unterbäch ist aber das einzige Dorf, das die Stimmen der Frauen und Männer gleichwertig behandeln will.

Die Stimmen der Unterbächer Frauen werden schliesslich für ungültig erklärt, dennoch ist die Protestaktion ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur politischen Gleichberechti-gung der Frauen. Gegen den Willen der Walliser Regierung trägt Unterbäch als erste Schweizer Gemeinde die Frauen ins kommunale Stimm- und -wahlregister ein. Erst 13 Jahre später erhalten die Walliserinnen das kantonale Stimmrecht. Katharina Zenhäusern lässt bis zu ihrem Tod 2014 keine Abstimmung aus.

Das Oberwalliser Bergdorf wird zum Symbol für die politische Teilhabe der Frauen und als «Rütli der Schweizer Frauen» bekannt. Als Elisabeth Kopp 1984 zur ersten Bundesrätin gewählt wird, macht Unterbäch sie zur Ehrenbürgerin. 1988 zum Rücktritt gezwungen, wird sie im Februar 1989 nach Unterbäch eingeladen. Während ihrer Besuche lernen Elisabeth Kopp, Iris von Roten und Katharina Zenhäusern einander kennen – drei Pionierinnen im Kampf um das Stimm- und Wahlrecht für Frauen (Quelle: EKF).

„Irgendeine musste ja den Anfang machen.“ Katharina Zenhäusern, 2007

 

 

 

 

Stimmrecht, Demokratie und die Frage nach der Perspektive

Das Frauenstimmrecht! Es verfolgt mich. Oft halte ich diskret den Mund, doch ab und zu geht es nicht anders und ich sage geradeaus, dass mich das Wort nervt. Dann muss ich etwas ausholen, damit es keine Missverständnisse gibt. Es ist, dies vorweg, absolut verständlich, dass dieser Begriff als allseits gebräuchlicher Mehrheitsbegriff in unserem Sprachgebrauch festsitzt. Aber…

Ich sehe sie jubeln, die grosse Schar der Siegreichen, an jenem Sonntagabend im Februar 1971. „Es ist geschafft, wir haben es, endlich, das Frauenstimmrecht, endlich auch in der Schweiz!“ Präziser: das Stimm- und Wahlrecht für Frauen, gutgeheissen von der Mehrheit der Schweizer Männer in einer eidgenössischen Volksabstimmung – eh, Männerabstimmung. Neu zählt staatsrechtliche Menschwerdung der Bevölkerungsmehrheit, Erwachsenenstimmrecht.

Nehmen wir es genau, so lässt sich sagen: Unsere gerne als älteste Demokratie Mitteleuropas bezeichnete Demokratie ist jung. Es gibt sie seit gerade mal 50 Jahren. Verwirrend? Gut möglich. Denn so denken wir nicht. Und sprechen wir nicht. Der Begriff Frauenstimmrecht ist ein gutes Beispiel dafür. Das Stimmrecht ist der allgemeine Begriff, das Frauenstimmrecht die spezifizierte Besonderheit. Das ist aber keine sachlich korrekte Wahrnehmung. Korrekt müssten wir bis 1971 vom Männerstimmrecht sprechen – spezifiziert für eine bestimmte Menschengruppe, die Schweizer Männer – und von da weg vom allgemeinen Stimmrecht oder kurz Stimmrecht. Die Männer sind nicht das Volk, auch nicht die Allgemeinheit. Ja, nicht einmal die Mehrheit.

Nun könnte eine solche Betrachtung als spitzfindig, als Wortklauberei ohne Bedeutung bezeichnet werden. Schön wäre es, es wäre so. Was als Gedankenspielerei, als nebensächlich oder auch als überholt erscheinen mag – haben wir nicht Wichtigeres zu tun? – ist das, was die androzentrische Perspektive ausmacht: der Blick auf die Welt aus männlicher Sicht. Sie ist uns so vertraut, so allgegenwärtig, dass die Wahrnehmung dafür weitgehend fehlt. Und beides – die einseitige Perspektive wie auch die fehlende Wahrnehmung – ist sehr wohl von Bedeutung.

Nochmals zu unserem Beispiel: Das Begriffspaar „Stimmrecht und Frauenstimmrecht“ kennzeichnet das Schauen aus der gewohnten, am Mann orientierten Optik, die androzentrische Perspektive: das Allgemeine und das Spezielle. Oder: die Norm und die Abweichung. Das Begriffspaar „Männerstimmrecht und Stimmrecht“ hingegen – wiewohl es ungewohnt, ja befremdlich wirken mag –   verweist auf die korrekte Sichtweise: hier die Männer, bis 1971, nachher die stimmberechtigte Allgemeinheit.

Was also, exemplarisch gezeigt, wie eine sprachliche Spitzfindigkeit wirken könnte, erweist sich – inhaltlich gesehen – als gravierende Fehlentwicklung im Hinblick auf Welterklärung. Eine Aussage der Sprachforscherin Luise F. Pusch lässt die Dimension der Schräglage erahnen, mit der wir es zu tun haben. Ihre Erkenntnis, sinngemäss wiedergegeben: „Es war ein genialer Schachzug, Männerdemokratie einfach Demokratie zu nennen, Männerforschung einfach Forschung, Männergeschichte einfach Geschichte, Männersprache einfach Sprache etc.“ Diese strukturellen Bedingtheiten verschwinden in den gegenwärtigen Zeiten des favorisierten Individualismus erst recht aus der gesellschaftspolitischen Betrachtung – auch in feministischen Auseinandersetzungen, will mir scheinen.

Sprachgepflogenheiten zu verändern ist nicht einfach. Auf individueller Ebene kann es fürs Erste genügen, wenn beim Wort Frauenstimmrecht – gehört oder gesprochen – vor dem inneren Auge ein Bild für die Schräglage aufscheint: Achtung Rutschgefahr, zum Beispiel.

Ingrid Rusterholtz, 1949, Lehrerin und Heilpädagogin, Dozentin, Gleichstellungsbeauftragte Basel-Stadt. Mit meinem Lebens- und Sharing-Partner zwei Töchter 1980/1982 und drei Grosskinder. Kurse, Referate, Aufsätze im Themenspektrum Schule, Sprache, Gewalt,  un-/bezahlte Arbeit, Gender und Perspektive.

 

50 Jahre Frauenstimmrecht 2021 – (k)eine Selbstverständlichkeit

Zu Beginn meiner Arbeit als Geschäftsführerin vom Verein CH2021 habe ich mich mit dem Thema Frauenstimmrecht vertraut gemacht. Die erste Überraschung war, dass die umliegenden Länder das Frauenstimmrecht viel früher erhalten hatten: Deutschland und Österreich 1918, Frankreich 1944 und Italien 1946. 50 Jahre Frauenstimmrecht sind also ziemlich jung. Ich habe mir auch Gedanken gemacht, wie das Stimmrecht und die Gleichberechtigung mein Leben beeinflusst haben.

Eine bleibende Erinnerung ist auf jeden Fall die Abstimmung vom 7. Juni 1970, die «Schwarzenbach-Initiative» zur sogenannten Überfremdung der Schweiz. Ich war zwar erst 4 Jahre alt, doch ich bekam die Anspannung und Angst trotzdem mit. Meine Eltern waren in den 50er Jahren zum Arbeiten aus Italien in die Schweiz gekommen; ich bin also eine sogenannte «Seconda». An diesem Sonntag sassen wir gebannt vor dem Radio und warteten auf das Resultat. Wir hatten Angst, dass wir die Koffer packen müssen und zurück in das Land sollten – ein Land, welches ich kaum kannte. Die Vorlage wurde zum Glück abgelehnt, doch das Gefühl, dass wir nicht willkommen waren, blieb lange Zeit bestehen.

Nach der obligatorischen Schule entschied ich mich für eine Lehre als Schriftsetzerin. Damals wurde dieser Beruf von Männern dominiert. Das erste halbe Jahr durfte ich noch die Kunst des Bleisatzes erlernen, dabei waren die schweren Druckformen oft eine körperliche Herausforderung. Als ich Jahre später als Produktionsleiterin in der Werbebranche arbeitete, musste ich zur Druckabnahme einer Zeitschrift oft spätabends in die Druckerei (die Druckmaschinen laufen auch nachts). Die meist gestandenen Männer waren manchmal überrascht, wenn da eine Frau kam. Als ich das erste Mal die Maschinen stoppen liess, weil ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, haben mich die Herren ziemlich kritisch beäugt, doch am Schluss behielt ich recht; die Qualität war nicht perfekt.

1982 absolvierte ich einen Kurs als Sportjournalistin. Wir waren damals nur drei Frauen und beinahe 60 Männer. Meinen Traum Sportjournalistin zu werden, habe ich leider rasch begraben. Die Hürden waren zu dieser Zeit immens, Frauen als Sportjournalisten gab es damals praktisch noch nicht. Ich schrieb vorwiegend über Eishockey und Fussball, das war dann sowieso überhaupt nicht gern gesehen.

Meine Leidenschaft für Fussball hat es mit sich gebracht, dass ich mit Frauenfussball begonnen habe. Dieser steckte damals noch in den Anfängen und es waren nur wenige Teams, die an der Meisterschaft teilgenommen haben. Heute ist der Frauenfussball etwas populärer, aber noch immer wird dieser belächelt. Aktuell findet im FCZ Museum eine Sonderausstellung zum 50-jährigen Frauenfussball-Jubiläum in der Schweiz statt.

Rückblickend muss ich sagen, dass ich keine Erklärung dafür habe, wieso ich an klassischen «Männerberufen» oder an «Männersportarten» Gefallen fand.

Was das Stimmrecht angeht, so musste ich lange auf die Gelegenheit warten abstimmen zu dürfen. Als Ausländerin, die in der Schweiz geboren ist und hier die Schulen besucht hat, stand für mich irgendwann fest, dass ich und meine Familie das Schweizer Bürgerrecht beantragen sollten. Die Hürden für diesen Schritt waren hoch und die Behandlung war oft auch erniedrigend, wir mussten dafür kämpfen. Es war dann ein besonderer Moment, als ich zum ersten Mal das graue Abstimmungscouvert per Post auf meinen Namen erhielt.

Als meine ältere Tochter kurz nach ihrem 18. Geburtstag ihre Abstimmungsunterlagen erhielt, war ich froh, dass ihr vor 50 Jahren der Weg geebnet wurde und sie als Frau von heute nicht mehr dafür kämpfen muss.

Vergessen wir aber nicht, wie beschwerlich der Weg zum Frauenstimmrecht oder zum Stimmrecht allgemein war und immer noch ist. Auch der Weg zur Gleichstellung ist immer noch ziemlich lang und leider auch heute immer wieder eine Herausforderung.