50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz

Das Irish Business Network Switzerland (IBN) ist ein Netzwerk aus Geschäftsleuten, die in der Schweiz leben und/oder arbeiten und irisch sind oder eine enge Verbindung zu Irland haben.

Am 4. März 2021 organisierte das Irish Business Network eine zum Nachdenken anregende Diskussion mit einer erlesenen Runde: Zita Küng, Präsidentin von CH2021 und erste Leiterin des «Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann» der Stadt Zürich; Alkistis Petropaki, General Manager von WeAdvanceMarialuisa Parodi, Präsidentin von FAFTplus, Tessin, und Tabi Haller-Jorden, ehemalige Leiterin von Catalyst, Europa, Präsidentin und CEO des Paradigm Forum. Die Expertinnen beleuchteten das Schweizer Frauenstimmrecht auf Bundesebene, das vor Kurzem sein 50. Jubiläum feierte, und teilten ihre reichen Erfahrungen mit dem Publikum.

Die Diskussionsteilnehmerinnen skizzierten die Geschichte dieses Stimmrechts und den steinigen Weg zur Gleichberechtigung, der noch lange nicht zu Ende ist. Beim Versuch, die aktuelle Situation zu verstehen, erinnerte IBN-Co-Präsidentin Geraldine O‘Grady an die «verinnerlichte Unterdrückung» der Frauen in der Schweiz, die angesprochen wurde. Geraldine O‘Grady fühlte sich an das erinnert, was einige Historiker und Historikerinnen als «erlernte Hilflosigkeit» bezeichnen, unter der die bitterarmen irischen Bauern zur Zeit der irischen Hungersnot litten.  Ein tragischer Fakt in der irischen Geschichte. Aber auch Fakt für die Schweiz und die Schweizerinnen, selbst heutzutage?

Infrastruktur und Hindernisse

Eine Diskussion über die aktuelle Situation, Fortschrittsbarrieren und die Notwendigkeit eines Kultur- und Mentalitätswandels brachte den Stein ins Rollen. Das Fehlen männlicher Teilnehmer an der Veranstaltung wurde mit Bedauern zur Kenntnis genommen, schliesslich seien Probleme im Zusammenhang mit der Gleichstellung der Geschlechter keine reine «Frauenangelegenheit». Vielmehr wirken sie sich auf alle Mitglieder einer Gesellschaft negativ aus – hier und überall.

Die Infrastrukturprobleme in der Schweiz mit lückenhaften Stundenplänen, mangelnder Kinderbetreuung, Erwartungen an den Platz der Frau in der Gesellschaft und die Zahl der teilzeitarbeitenden Frauen – die höchste in allen OECD-Mitgliedsstaaten – waren Teil der Diskussion. Während Teilzeitarbeit angesichts der familienunfreundlichen Schul- und Kinderbetreuungsinfrastruktur kurzfristig eine gute Lösung zu sein scheint, ist die Zahl der Frauen, die im Rentenalter keinen Zugang zu angemessenen finanziellen Mitteln haben, inakzeptabel – die Feminisierung der Armut ist ein sehr reales Problem.

Finanzielle Unabhängigkeit

Angesprochen wurden auch die Themen finanzielle Unabhängigkeit und Sicherheit und es wurde betont, wie wichtig es ist, dass Frauen finanziell für ihr Wohl verantwortlich sind.  Wir erfuhren, dass in den USA zwar fast 30 % der Frauen zwischen 18 und 35 Jahren mehr verdienen als ihre Partner, doch eine Verschiebung sehr wahrscheinlich wird, sobald Kinder ins Spiel kommen. Ab diesem Augenblick stossen Frauen in der Regel auf Barrieren und müssen harte Entscheidungen treffen. Diese Situation führte bzw. führt zu einer starken Abhängigkeit der Frauen von ihren Partnern. Daher ist es notwendig, dass junge Menschen über finanzielle Verantwortung aufgeklärt werden, und zwar schon in jungen Jahren.

Mentalitätswandel

Was ist nötig, um die Mentalität einer Gesellschaft zu ändern, damit Gleichbehandlung und Chancengleichheit gewährleistet sind? Die Wahrnehmung, dass Kinder darunter leiden, wenn Frauen paritätisch im Berufsleben vertreten sind, muss dringend geändert werden. Tatsächlich belegen mehrere Schweizer Studien einen positiven Zusammenhang zwischen dem Besuch von qualitativ hochwertigen Kindertagesstätten und schulischen Fortschritten, wie IBN Co-Präsidentin Brigid O‘Donovan im Chat mitteilte.

Müssen wir uns verändern oder das System, in dem wir arbeiten? In der anschliessenden Diskussion wurden wichtige Themen beleuchtet, nämlich die Aufklärung und Sensibilisierung in Unternehmen sowie die notwendige Zivilcourage, für sich selbst einzustehen. Die Moderatorin dieser Diskussion, Mary Mayenfisch, bestand auf der Notwendigkeit eines besseren Schutzes und einer besseren Gesetzgebung, damit solch mutige Menschen gehört und geschützt werden. Interessanter Fakt am Rande: Bis heute ist der Schutz von unbequemen Stimmen und Whistleblowern nicht im Schweizer Gesetz verankert. Es braucht Zivilcourage, um notwendige gesellschaftliche Veränderungen zu realisieren, genauso wichtig aber ist der gesetzliche Schutz derjenigen, die solche Veränderungen fordern. Die Teilnehmenden wurden aufgerufen, nicht einfach auf die notwendigen politischen Veränderungen zu warten, sondern sich zu fragen, ob sie selbst Role Models für die Werte sind, die sie in Bezug auf Gerechtigkeit vertreten. Was hat jede Einzelne und jeder Einzelne von uns unternommen, um unser Engagement für diese Zielsetzung zu zeigen?

Frauen in Politik und Wirtschaft

Die Diskussion ging über zur Bedeutung von Frauen in der Politik; dazu wurde auf zwei kürzlich in der Schweiz durchgeführte Studien verwiesen1]. Zu den angesprochenen Themen gehörten der Konflikt zwischen Wirtschaft und Betreuung, die grosse Menge an unbezahlter und wenig beachteter Care-Arbeit, die Frauen für die Gesellschaft leisten, und der erfreuliche Anstieg der Zahl von Frauen, die in die Politik eintreten.

Mit Blick auf den Unternehmenssektor verwies Alkistis Petropaki auf die Arbeit mit der Universität St. Gallen, den Gender Intelligence Report und den Maturity Compass sowie die Messung der vier Stufen der Gender Maturity.

Die anwesenden Rednerinnen merkten an, dass ein höherer Frauenanteil in den Vorständen zu höheren Gewinnen führt. Eine der Teilnehmerinnen in der Diskussionsrunde zitierte dazu Viviane Reding, ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission: «I don’t like quotas, but I like what they do» (Ich mag keine Quoten, aber ich mag, was sie tun). Angesichts der eindeutigen Faktenlage, nämlich dass vielfältige Teams und Vorstände von Unternehmen für bessere Retouren sorgen, stellt sich die sehr berechtigte Frage, warum es in der Schweiz nicht mehr Frauen in den Vorständen gibt.[2]

Und wie sieht es mit der Schnittmenge zwischen Frauen in der Politik und Frauen in der Wirtschaft aus? Könnte man in der Schweiz eine Allianz bilden, um Veränderungen stärker voranzutreiben? Viele multinationale Unternehmen, die hier tätig sind, sind sehr um Vielfalt, Inklusion und Gleichberechtigung bemüht, aber gehen sie auf die Schweizer Politikerinnen und Politiker zu, die für dieselben Rechte kämpfen?

Beim Blick auf andere Länder – hier Ruanda – wurde bemerkt, dass dieses Land die höchste Anzahl von weiblichen Parlamentariern in der Welt und eine unglaublich effektive Regierung hat. Ein gutes Role Model also für die Schweiz?

Schliesslich wurden die Nutzung von Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren (ESG) durch Unternehmen, um eine bessere Leistung und Governance zu gewährleisten, angesprochen, die geringe Anzahl von Frauen in der Schweiz, die bereit sind, sich frühzeitig unternehmerisch zu betätigen (7,3 % im Vergleich zu 12,3 % der Männer), die Notwendigkeit, Frauen zu sponsern statt zu betreuen, die Rolle der Soziologie und ihre Bedeutung für den Fortschritt sowie die ungleiche Verteilung der Arbeit. So viele interessante Themen, für die am Ende leider viel zu wenig Zeit war.

Falls Sie sich weiter in die Materie einlesen möchten, legen wir Ihnen dieses Manifest ans Herz, das Zita Küng und der Vorstand von CH2021 am 7. Februar 2021, dem 50. Jahrestag des Frauenstimmrechts, an den Bundesrat geschickt haben und in dem die Schweizer Regierung dringend aufgefordert wird, einen Aktionsplan für eine echte Gleichstellung zu erstellen … und zwar jetzt!

[1] Tresch, Anke; Lauener, Lukas; Bernhard, Laurent; Lutz, Georg et Laura Scaperrotta (2020). Élections fédérales 2019. Participation et choix électoral. FORS-Lausanne. DOI: 10.24447/SLC-2020-00002.

Seitz, Werner (2020). Die Frauen bei den eidgenössischen Wahlen 2019: Ein grosser Schritt nach vorne – im Bundeshaus. Mit einem Exkurs zu den Frauen bei den Wahlen in den kantonalen Parlamenten und Regierungen 2015/2019. Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF. Bern, Juni 2020, S. 24

[2] https://www.schillingreport.ch/content/uploads/sites/2/2021/02/Medienmitteilung_2020.pdf

Über Mary Mayenfisch-Tobin

Die irische Anwältin Mary Mayenfisch-Tobin arbeitete in verschiedenen privaten Rechtsanwaltskanzleien in Irland, bevor sie 1987 nach ihrer Heirat nach Lausanne zog. Sie studierte Französisch und schloss 1992 ihr LLM in europäischem und internationalem Wirtschaftsrecht an der Universität Lausanne ab und qualifizierte sich 2017 als Mediatorin. Nach ihrer Lehrtätigkeit an der Ecole Hotelière de Lausanne, der Pepperdine University (Schweiz) und anderen akademischen Institutionen ist sie auch heute noch im Bildungsbereich tätig. Präsidentin von Business and Professional Women Lausanne (2010 bis 2014), ist sie nun Präsidentin von CLAFV Centre de Liaison des Associations Féminines, ein nominiertes Mitglied der Commission Consultative Cantonale de l’Egalité und Mitglied des Ausschusses von Politiciennes.ch im Kanton Waadt.

Swiss democracy and the public humiliation of women

Der folgende Blogbeitrag in der Originalsprache wurde uns freundlicherweise von Gender Campus, der Plattform für Gender Studies, Equality und Diversity im Schweizer Hochschulraum, zur Verfügung gestellt. Danke auch an die Autorin Patricia Purtschert.

This year, Switzerland remembers the introduction of voting rights for all its citizens. Fifty years ago, on February 7, 1971, women were enfranchised. This moment was preceded by 123 years of male-only suffrage, granted in 1848 to a selected group of men that initially excluded poor and Jewish men. Even today, voting rights are not granted for anyone without a Swiss passport.

The 50-year anniversary opens up important discussions about the injustice done to women, including the call for an official apology. The CH2021 initiative has published a manifesto proposing that the Federal Council launch an official “day of remembrance” in parliament, and commit to a “binding action plan to realize true equality”.

In this blog entry, I want to take a close look at one dimension of the injustice done to women. Referring to six moments in the lives of path-making women, my aim is to make visible the specific humiliation directed at women who have dared to enter the public space in order to raise their voice and participate in political decision-making. On the level of national politics, this history includes the social democratic politician Lilian Uchtenhagen who lost her attempt to be voted onto the Federal Council in 1983; the forced resignation of the first female Federal Councilor Elisabeth Kopp in 1988; and the parliament’s refusal to re-elect Ruth Metzler as the third female Federal Councilor in 2003. However, and as the stories below demonstrate, the long and largely unacknowledged history of women’s humiliation in the public sphere both affects and transcends the realm of parliamentary politics. That’s why I start narrating this history of humiliation not from within the parliament – the building itself – but from the public square right in front of it.

On the 22nd of September 2020, a Black woman whose name remains unknown, marches in a demonstration, initiated by illegalized people from different parts of Switzerland. The protest raises the unbearable conditions in which people must live when denied the right to asylum in Switzerland. The protestors, mainly people of color, hold posters with slogans like, “Don’t deal with human lives”, “I don’t want to live in prison” and “Asylum camps are places of violence”. When the group starts marching towards the parliament building in order to take their demands to the seat of Swiss government, they are brutally stopped by the police. With rubber bullets and water cannons, the demonstrators are prevented from entering the Bundesplatz, the public square in front the parliament building. The protesting woman I just mentioned is pregnant and walks together with her child who starts crying when the tear gas hits the crowd. Imagine how it feels when a supposedly democratic state forbids you from being in a public space in order to stand up for your human rights.

On the 5th of May 2011, Maria von Känel leaves the Swiss Federal Court in Lausanne together with her partner Martina and a group of LGBTQ activists. She has just lost her case to adopt their daughter and thus receive parental rights for her own child. Imagine the vulnerability of having one’s intimate relations put on trial like this. The court has argued that the couple had been living in a so-called registered partnership for only three years whereas heterosexual couples needed to be married for five years in order to qualify for a stepchild adoption. The court did not take into consideration how married heterosexuals do not need to adopt their own children in the first place. It also did not recognize that Maria von Känel and her partner, who had been together for thirteen years, were prevented from legally registering their relationship until 2007. In 2018, stepchild adoption for same-sex parents is finally introduced in Switzerland after a continuous struggle, one in which Maria and Martina von Känel have played a decisive role. Even in 2020, when the Federal Parliament voted in support of marriage equality, recognition for children born into a marriage between two women is still restricted by arbitrary, nationalist criteria. At the time of writing, right-wing and fundamentalist religious groups are collecting signatures for a referendum to block the introduction of the marriage equality law.

On the 10th of March 1993, National Councilor Christiane Brunner stands before parliament and withdraws her candidature for a place on the Federal Council. In her speech, she condemns the underhanded culture of politics “in which women can only loose”. For weeks, she has been targeted in a media campaign initiated by an anonymous letter-writer claiming that she had had an abortion and that the writer possessed a nude photo of her. Imagine the courage it takes to hold patriarchal politics accountable at the very moment of your exclusion, all hinging on completely baseless sexist and classist accusations. The subsequent election of a male politician and the reconstitution of an all-male government brings feminist protesters from all over the country to the capital, prompting new elections one week later. It is then that the unionist Ruth Dreifuss becomes the second female and the first Jewish Federal Councilor in Swiss history. Right after her election, she addresses the crowd in front of the parliament building, with Christiane Brunner by her side. For many years, the golden sun badge that they both wear on this day is worn by Swiss women as a symbol of both hope and rage.

On the 30th of November 1971, shortly after Swiss women finally got the right to vote, the first eleven women take their seats in the National Assembly. Among them is Tilo Frey, probably the first Black parliamentarian in Switzerland. This epoch-making shift in political representation is barely touched upon in the media. When it does get mentioned, newspapers write about flowers, colorful handbags, and scarfs adorning the parliament chambers. Tilo Frey is repeatedly singled out, and her political abilities are questioned, for wearing a white dress – the color of suffragettes and festive occasions. The parliamentary dress code is, needless to say, oriented towards men: dark suits. Imagine the affront when such a historic moment is depicted as a side note, women’s political representation reduced to a matter of etiquette, and the one Black woman is portrayed as failing on both counts.

In February 1959, the Basel carnival has a predominant target: women’s struggle for suffrage thwarted by the all-male vote on February 1st. The central target of the spectacle is Basel-based author Iris von Roten, whose feminist magnum opus “Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau” (“Women in the Playpen. Plain Words about the Situation of Women”) provoked huge public debate before the vote. Many years of careful research preceded the publication of Iris von Roten’s long (600 pages), brilliant and ground-breaking book in fall 1958. Imagine the indignity of your encompassing analysis of contemporary patriarchy being ridiculed in a carnival parade celebrating another victory of men over women. Women’s suffrage is introduced in Switzerland in 1971, making Iris von Roten a full citizen at the age of 54. Her book remains an inspiration and an incentive for feminists to this day.

In February 1939, Frieda Berger, whose name is anonymized due to archival law, writes to Federal Councilor Philipp Etter. It is one of many letters she has sent to decision-makers, stating, in startlingly clear language, that the deprivation of her freedom without a trial was a severe violation of her rights. Frieda Berger earned her livelihood as a domestic worker in households and on farms. In 1930, at the age of 36, she had been placed under guardianship due to “unruly behavior”. Her main offence was her romantic and sexual relations with men she was not married to and her alleged involvement in prostitution. Over the next four decades she spent fifteen years in asylums against her will. Most of her letters to the authorities remained unanswered or poorly answered. Imagine having your freedom in the hands of men who refuse to hear your voice, even if you appeal to the rule of law. Many years after Frieda Berger’s death, historian Tanja Rietmann discovered over 130 of her letters in archives and made her story public. Then, on the 10th of September 2010, 71 years after Berger sent her letter to a member of the Federal Council, Federal Councilor Eveline Widmer-Schlumpf made an official government apology to the many people forced into administrative detention [administrative Versorgung].

These are just six out of many untold stories about Swiss democracy. They refer to various places and protagonists, to diverse struggles and victories, and to very different historical circumstances and contexts. They also make apparent how women’s ability to raise their voices and to gain access to public space is always intertwined with their class, race, sexuality, nationality, or legal status. My aim is not to claim that these women share the same or even similar experiences. Instead, I want to highlight the ongoing practice of humiliating women when they do try to enter the public arena, and the way their humiliation is normalized by the very people who are supposed to represent and uphold “Swiss democracy”.

Writing Swiss history from a feminist perspective means comprehending how the humiliation of women sets the ground for their complicated feelings of un/belonging in the public. This generates a deep sense of anxiety, uneasiness, and trepidation, one which is rarely taken into account when we talk about democracy, participation, and equality. It is a collective affect so often engraved on the faces, voices, and bodies of women exposed to public humiliation. And it is inscribed in the hearts and minds of those who watch(ed) them, including the girls who learn to imagine what their place in the world might be. Yet, the steadfastness, rage, and perseverance of these women also constitutes the ground for political action, social change, and the re-invention of the political – often in ways that could not have been imagined possible before.

Über Patricia Purtschert: 

Patricia Purtschert ist Philosophin und Kulturwissenschaftlerin sowie Professorin für Gender Studies und Co-Leiterin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZFG) an der Universität Bern. 

Ein Mantra für die grossartige Emanzipation

Es ist ein Mantra, eine magische Formel, die immer und immer wieder in Kreisen braver Stimmbürgerinnen gemurmelt wird: «Zwar haben wir nun das Frauenstimm- und -wahlrecht, ABER noch ist die wirkliche Gleichberechtigung SO FURCHTBAR WEIT WEG». Stimmt – mindestens in einigen Punkten. Aber wieso wird nicht gejubelt: «Wir haben es nun geschafft, dass das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt wurde, nun schaffen wir noch weitere Grossartigkeiten»?

Rogger Franziska, «Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten!» NZZLibro, Basel 2021

Die Frauen, die letztlich den Sieg von 1971 lancierten, haben um 1900 sehr klein angefangen, mit minimalen Chancen und schlechten Startbedingungen. Das zeigt mein neues Buch: «Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten». Nachdem das Buch «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte» detailliert den langen aber letztlich siegreichen Kampf der Schweizerinnen bis 1971 geschildert hat, so geht es nun um die Anfänge der schweizerischen Frauengeschichte um 1900. Dieses Buch zeigt das pralle Leben und wie Frauen dank eigenen Erfahrungen dazu kamen, zu handeln. Die Geschichte ist aus weiblichem Blickwinkel und mit authentischen Quellen erzählt.

Eine dieser Frauen war die bis heute völlig ignorierte Julie Ryff, eine Mutter von 13 Kindern, eine Witwe, die mit fünfjährigen Gerichtshändeln die Auszahlung ihrer gerechten Lebensversicherung erstreiten musste, eine Stellenlose, die sich als Buchhaltungslehrerin neu erfand und die sich ans Motto hielt: «Agissons nous-même!». Ryff (1831-1908) mischte sich in die Gesetzgebung ein, leitete eine grundlegende nationale Umfrage, gab «der Stauffacherin» die Ehre und suchte, ein Frauensekretariat zu schaffen. Obwohl sie erst im Rentenalter aktiv werden konnte, schuf sie Beachtliches und wurde in der frühen Frauenpolitik und in meinem Buch zu einer Hauptfigur.

Zwei dieser Frauen trafen sich 1881 im Walliser Kurort Leukerbad. Die in Boston USA praktizierende englisch-australische Ärztin Harriet Clisby hatte nur einen bescheidenen medizinischen Abschluss erreichen können, da das gleichwertige Frauenstudium damals noch unmöglich war und hatte 1877 mitgeholfen, in Boston eine Selbsthilfe-Union zu gründen. Sie sollte Bildung und Arbeitsbedingungen der Frauen verbessern. Beim Kuren traf Clisby auf die unglücklich verheiratete Schweizerin Emma Pieczynska-Reichenbach, die kinderlos ihre «gottgegebene» Frauenrolle nicht ausfüllen konnte. Sie fand letztlich dank Clisby eine neue, ebenso erfüllende Bestimmung und die beiden wurden eine Stütze der in frühen Vereinen engagierten Schweizerinnen.

Eine dieser Frauen, Bertha Honoré Palmer Potter in Chicago, war schön, reich und einflussreich. Ihr Geld, ihre Beziehungen und ihr Tatendrang stellte sie in den Dienst der Frauen. Sie präsidierte an der Spitze der Weltausstellung von Chicago 1893 «the Women», die ein eigenes Gebäude und eine eigenständige Show schufen und deren internationaler Kongress zum Ausgangspunkt nationaler Dachverbände wurde, etwa dem deutschen und dem schweizerischen.

Eine dieser Frauen, Elise Egger-Honegger hatte mit sieben Kindern und einem Mann, der mehrfach Konkurs ging, im Gefängnis sass und sich immer wieder der Trunksucht hingab, ein bedauernswertes Eheleben. Mit ihren schmerzlichen Erfahrungen war sie frauenpolitisch gerüstet. Sie gründete 1879 die Schweizer Frauen-Zeitung und 1885 den Schweizer Frauen-Verband, engagierte sich zivilrechtlich und forderte Mädchenbildung, Frauenerwerbsarbeit und den Zugang der Frauen zu den Männerberufen ein.

Eine dieser Frauen war ein Mann. Carl Schenk, das im Internat erzogene Emmentaler Waisenkind, war 1847 Freischärler, dann Feldprediger und Bundesrat. Schenk interessierte sich für die Ursachen der Armut und die Anliegen der Frauen. Mit dem Post- und Telegrafendienst erschloss er Schweizerinnen ein neues, attraktives Berufsfeld. Als Präsident der Einwohnermädchenschule Bern sorgte er dafür, dass die Frauen das Stimmrecht in Schulfragen erhielten.

Alle begannen sie klein und erreichten viele Grossartigkeiten – damals sogar noch ohne Frauenstimm- und -wahlrecht!

Mehr Informationen über Franziska Rogger:

Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte. https://franziskarogger.com/ und https://hommage2021.ch/geschichte

*Porträtbild von Yoshiko Kusano 

Warum dauert das denn so lange?

Ich bin zehn Jahre älter als das Frauenstimmrecht. Wenn ich auf die letzten Jahrzehnte zurückblicke, dann bin ich erstaunt, wie viel sich verändert hat. Männer mit längeren Haaren sind kein Thema mehr, offiziell sind alle für Gleichberechtigung. Viele junge Menschen denken heute auch viel weniger in Geschlechterkategorien wie wir damals und mittlerweile gibt es doch einige Frauen mit guten Professuren, auf Richterstühlen und im Bundesrat. Ja selbst in den Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten wichtiger Firmen werden Frauen langsam wahrnehmbar. Es scheint also vorwärts zu gehen.

Dieser Eindruck trügt, denn in der Volksschule gibt es immer noch, Stundenpläne wie zur Zeit meiner Kindheit als die Schweiz noch ein Land der Hausfrauen war. Nach über dreissig Jahren rot-grünem Zürich versucht der Stadtrat nächstes Jahr endlich Tagesschulen einzuführen. Warum dauert das denn so lange?! Bei mir im Dorf in der Nähe von St. Gallen gibt es seit einem halben Jahr die erste Tagesbetreuung für Schüler, ich glaube, eine Kinderkrippe für Vorschulkinder gibt es bei uns immer noch nicht.

So viel Stillstand kann nicht einmal mit einer Schnecke richtig symbolisiert werden. Bei uns sind tatsächlich die Gletscher schneller geschmolzen als dass sich die Strukturen für Familien mit Kindern geändert hätten. Meine Mutter musste meinen Vater noch um Erlaubnis fragen, wenn sie eine Aushilfsstelle annehmen wollte, (natürlich war er dagegen), die Mütter heute müssen zwar ihren Ehemann nicht mehr um Erlaubnis bitten, aber sie können meist dennoch keine richtige Stelle annehmen, weil es vielerorts immer noch keine ausreichenden Kinderbetreuungsangebote gibt. Und wenn es welche gibt, sind sie oft so teuer, dass sich die Erwerbsarbeit kaum lohnt. Diese Dinge ändern sich nie, wenn wir nicht klaren Druck aufsetzen. Eine Frau in einen Verwaltungsrat zu wählen kostet nichts, aber familienfreundliche Strukturen einzuführen, ist mit Aufwand verbunden, auch mit finanziellem.

Drei Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag durfte ich zum ersten Mal abstimmen. Es ging um die Volksinitiative zur Gleichstellung von Frau und Mann. Ich habe mich damals nicht gefragt, wozu es für eine derartige Selbstverständlichkeit eine Volksabstimmung gebraucht hatte, aber ich war überzeugt, dass ich auf jeden Fall meine Stimme als frischgebackene Staatsbürgerin abgeben wollte. Als ich an jenem Abstimmungssonntag aufstehen und zur Urne gehen wollte, war mir derart speiübel und ich hatte so starke Menstruationsschmerzen, dass ich am liebsten im Bett geblieben wäre. Ich ließ mich dann aber von dieser Ironie des Schicksals nicht abhalten und habe kreideweiss meine Stimme für die Gleichberechtigung abgegeben, wohlwissend, dass mir auch im besten Fall meine monatlichen Bauchschmerzen bis zum Klimakterium bleiben würden. Die Stimmbeteiligung betrug damals rund 34% und von diesen stimmten 60% für den Gleichstellungsartikel, immerhin.

Schon damals war die Gleichberechtigung kein grosses politisches Thema. Der damals federführende Bundesrat Kurt Furgler erwähnte drei Monate vor der Volksabstimmung in einem mehr als einstündigen Fernsehinterview über Politik und die Schweiz die bevorstehende Abstimmung zur Gleichstellung von Mann und Frau mit keinem Wort.

Mir scheint, dass genau hier der wunde Punkt in der Gleichstellungsthematik liegt. Solange wir nicht darüber reden, wird sich auch nichts wirklich ändern. Gleichberechtigung darf man nicht beschweigen und nicht für selbstverständlich nehmen, sie kommt nur, wenn wir sie wirklich einfordern, selbst wenn sie etwas kostet. Ungleichberechtigung ist auch teuer, aber das rechnet natürlich lieber keiner so genau aus.

Über Lynn Blattmann

Lynn Blattmann, 1961, Historikerin und Sozialunternehmerin, engagierte sich Ende der 80er Jahre bis 2006 bei den Grünen und organisierte Frauenwahlkämpfe, 2006-2018 war sie COO einer großen Sozialunternehmung in St. Gallen und publizierte zu Arbeitsintegrationsthemen, seit 2018 ist sie als Beraterin, Historikerin und Foodbloggerin wieder beruflich selbständig.

 

 

 

 

 

Die Verweigerung des Frauenstimmrechts – zur Bedeutung der Einsicht in historisches Unrecht

Das Wissen über die Vergangenheit ist für das Verständnis der Gegenwart unabdingbar. Diese Einsicht ist inzwischen für viele selbstverständlich. Schliesslich wirkt die Vergangenheit in der Gegenwart nach und beeinflusst, was in ihr denk-, sag- und lebbar ist. Weniger selbstverständlich scheint noch immer die Erkenntnis, dass auch vergangenes Unrecht die Gegenwart prägt, sich gar in ihr fortsetzt und dies umso mehr, wenn es nicht als solches erkannt und anerkannt ist. Doch die Einsicht in historisches Unrecht ist für die Überwindung des Bestehenden unerlässlich.

Die Herausbildung einer nationalen Identität findet bis heute jedoch vor allem in Form eines positiven Selbstbildes statt – die Schweiz ist da keine Ausnahme. Dies hat sich an der Verdrängung begangenen Unrechts in der eigenen Kolonialgeschichte sowie im Zuge des zweiten Weltkriegs gezeigt oder am langen Schweigen über das Unrecht an den ‘Verdingkindern’. All dies als Unrecht anerkannt, würde erfordern, eine andere, neue Geschichte der Schweiz zu erzählen, eine, die nicht nur von Stolz über die eigenen (männlichen) Taten und Errungenschaften geprägt ist, die vielmehr auch über das Unrecht spricht, das getan wurde und bis heute fortwirkt. Zudem gälte es, das beharrliche Bedürfnis nach positiver Selbstinszenierung kritisch zu reflektieren. Ein solcher Schritt würde allerdings die Fähigkeit fördern, nicht nur das Nachwirken vergangenen Unrechts zu erkennen, sondern auch gegenwärtiges.

Auch in der aktuellen Diskussion, ob die Verweigerung des Frauenstimmrechts nun Unrecht war oder nicht, überwiegt das Bedürfnis, die letztendliche Zustimmung – wenn überhaupt – positiv als einen Akt der Gerechtigkeit zu bezeichnen. Schwer fällt es noch immer anzuerkennen, dass die Verweigerung ein Verstoss gegen die Gerechtigkeit, also ungerecht, ja möglicherweise gar Unrecht war. Noch immer überwiegt das Bedürfnis bei vielen Männern* nach Abwehr von Verantwortung.

„Die Verhältnisse waren damals halt so!“ gehört zu den dominierenden Sätzen. Doch sich dem Zeitgeist zu fügen, macht Unrecht verständlicher, aber nicht rechtens. Zudem, haben bislang nicht vor allem Männer* die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt? Das ist, so Roger Köppel, „der Irrtum des Jahrhunderts“. Im Gegenteil, „Frauen regieren die Welt“ (Die Weltwoche NZZ 11.02.21). Sie selbst haben deshalb das Stimmrecht auch gar nicht gewollt. Die vielen Frauen, die über Jahrzehnte immer wieder erneut für das Stimmrecht gekämpft haben, diesem Kampf teilweise ihr ganzes Leben gewidmet haben, zählen für Köppel nicht. Die Aussage seiner Mutter ist ausreichender Beweis. Sicherlich ist dies nicht ganz ernst gemeint, oder doch?

Symptomatisch ist diese Argumentation trotz allem: Noch immer besteht bei vielen Männern* kein Unrechtsbewusstsein. Dass den Frauen* durch die Verweigerung des Stimmrechts Unrecht angetan wurde, weisen sie weiterhin zurück. – Allerdings werden die, die das Unrecht anerkennen, stetig mehr.

Dass es Unrecht war, war erkennbar, wenn man(n) es wollte. So entstand zeitgleich mit der Formulierung der Menschenrechte eine Fülle an Texten, in denen mit grossem Aufwand nicht nur eine natürliche Überlegenheit der Männer* behauptet, sondern auch mit der angeblichen Minderwertigkeit der Frauen* ihr Ausschluss aus den Menschen- und Bürgerrechten legitimiert wurde. Schon die Vielzahl der Texte hätte stutzig machen können. Allemal zeigt es, schon damals bedurfte es der ausführlichen Rechtfertigung, Frauen aber auch andere Menschen wie Schwarze oder Indigene nicht als gleichwertige Menschen anzuerkennen und ihnen daher gleiche Rechte zu verweigern. Massstab für ihre angebliche Minderwertigkeit war der bürgerliche weisse heterosexuelle Mann. Nicht umsonst ist in vielen Sprachen das Wort Mann und Mensch identisch.

Selbst noch in der Botschaft des Bundesrates von 1957 findet sich diese Logik. So wird betont, „nur Gleiches muss nach dem Prinzip der Rechtsgleichheit gleich, Ungleiches muss aber ungleich behandelt werden“ (ebd.:767f.). Inzwischen zeigt sich allerdings, wird festgestellt, dass die zuvor erheblichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufgrund der zunehmenden Bildung von Frauen*, ihrer Erwerbstätigkeit und ihren öffentlichen Tätigkeiten nicht mehr bestehen. Eine Ungleichbehandlung der Frauen* lässt sich daher nicht mehr rechtfertigen. Das heisst: eine weitere Verweigerung verstösst nun vielmehr gegen das Prinzip der Rechtsgleichheit und ist nun rechtlich gesehen Unrecht. Massstab, so wird deutlich, für die Bestimmung der Gleichwertigkeit der Frau* ist der Mann*, seine Fähigkeiten und Tätigkeiten. Die grundlegende Entwertung sogenannter typisch weiblicher Sorgetätigkeiten, wie sie mit der bürgerlich patriarchalen Geschlechterordnung verbunden ist, setzt sich selbst in der Botschaft des Bundesrates fort. Obwohl gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten gelten sie am männlichen Massstab gemessen nicht als gleichwertig und genügen daher nicht, um Frauen* als gleichwertige Menschen mit gleichen Rechten anzuerkennen. Sie müssen vielmehr den Männern* ähnlich werden, ihnen gleich werden, um gleiche Rechte zu erwerben. Erst dann ist die Einführung des Frauenstimmrechtes ein Gebot sowohl der Rechtsgleichheit als auch der Gerechtigkeit und der Demokratie ist (ebd. 767). Und dies im Übrigen selbst dann, wird betont, wenn die Frauen das Stimmrecht selbst nicht wollten.

Wie zu Beginn angesprochen: Die Anerkennung historischen Unrechts ist unerlässlich, nicht nur um das Fortwirken des Unrechts in der Gegenwart zu erkennen, sondern auch seine innere Logik. So wird deutlich, die tatsächliche Gleichstellung der Frauen* und damit die Überwindung jeglicher Form der Diskriminierung von Frauen* wird nur erreicht, wenn diese herrschende Logik durchbrochen wird, nach der nur Menschen, die als Gleiche (im Sinne von identisch) angesehen werden, als Menschen mit gleichen Rechten anerkannt werden. Die Herstellung tatsächlicher Gleichstellung der Frauen*, aber auch der Menschen überhaupt bedarf vielmehr einer nicht-hierarchisierenden Anerkennung in ihrer jeweiligen Verschiedenheit.1

[1] Das Manifest CH2021 «Dampf machen» fordert daher eine entsprechende bewusste Planung der tatsächlichen Gleichstellung für die Zukunft.

 

 

 

 

 

Prosit 2021! Stossen wir auf unser Geschichtsbewusstsein an!

Es ist noch jung, das Jahr. Doch erste Medien stimmen sich bereits auf den 50. Jahrestag der Abstimmung vom 7. Februar 1971 ein: Das Männermehr sagte Ja zum Stimm- und Wahlrecht für die Schweizerinnen auf Bundesebene. Genau einen Monat später, am 7. März, konnten sie erstmals zur Urne. Es erwarten uns also noch weitere Gedenktage, an denen vor 50 Jahren irgendetwas zum ersten Mal passierte. Die einjährige Auffrischung zur jüngeren Schweizer Geschichte möge im ganzen Land gut ankommen.

„Frauen.Stimm.Recht“ titelt der Chefredaktor eines Wochenmagazins in seinem letzten Editorial. Um dann die Länder Estland, Armenien und Kirgisistan aufzuzählen, wo Frauen gut doppelt so lang über politische Rechte verfügen wie hierzulande. „Kein Ruhmesblatt also für…“

Ich erzähle meinem Partner von meiner Lektüre und frage: „Was denkst du, wie geht der Satz weiter?“ Er: „Na ja, so schwierig ist das nicht. Kein Ruhmesblatt für die Schweiz? – …für die Schweizer? – …für die Schweizer Männer?“ Ich verneine jedes Mal. Er ist nun doch etwas überrascht: „Sag schon.“ Ich: „Kein Ruhmesblatt also für Mutter Helvetia.“ Wir müssen lachen. Doch gleichzeitig denke ich an meine Lieblings-Linguistin Luise F. Pusch und ihre anschauliche Analyse, die in vielen Zusammenhängen gilt. Sie nennt es „die Vaporisierung des handelnden Subjekts“.

Die Zeitschrift „Bildung Schweiz“ nimmt ebenfalls Bezug auf unsere bekannte allegorische Symbolfigur. Der Beitrag „Ein halbes Jahrhundert Helvetia“ liefert eine Zusammenstellung über das vielfältige Engagement – zeitgeschichtlich und gegenwärtig – zur Thematik und zudem einige Hinweise und Links, die für den Unterricht dienlich sein können.

Ich stutze. Helvetia geht weit zurück, bis in die keltische Zeit, erinnere ich mich. Mit der Gründung der Helvetischen Republik 1798-1803 taucht der alte Bezug wieder auf. „Helvetia ist die vom Volksstamm der Helvetier abgeleitete neulateinische Bezeichnung für die Schweiz und eine allegorische Frauenfigur, welche die Schweiz bzw. die Eidgenossenschaft versinnbildlicht“, heisst es bei Wikipedia. Seit der Gründung des Bundesstaats 1848 heisst die Schweiz – offiziell und alle Landessprachen umspannend – auch Confoederatio Helvetica. So wird Helvetia, schon ab 1850 auf dem Zweifränkler, zum Bild für die Einheit des modernen Bundesstaates, der gerade aus dem Staatenbund entstanden war.

Foto: Tula Roy, Titelbild der Chronik 1916-1991 von Anneliese Villard-Traber „Weit gebracht?“ mit der Helvetia-Skulptur der Basler Künstlerin Bettina Eichin, hg. von der Vereinigung für Frauenrechte Basel, 1992

Helvetia steht für die ganze Eidgenossenschaft – möchte man meinen. Weist der Titel „Ein halbes Jahrhundert Helvetia“ nicht auch auf die Zeit davor, auf den mehr als 120-jährigen Ausschluss der Frauen von der politischen Partizipation? Ich möchte in der Aussage gerne lesen, dass es erst seit einem halben Jahrhundert angebracht, mehr noch, legitim ist, von einer Demokratie zu sprechen; Helvetia bestätigt es.

Wer die Begriffe Demokratie und Männerdemokratie als Synonym versteht, wird vermutlich kaum über den Unterschied nachdenken. Doch die politische Gleichberechtigung ist nicht allein für die Frauen wichtig, sie ist auch eine Notwendigkeit für eine Demokratie, die diese Bezeichnung verdient und in der eine pluralistischere Politik zum Tragen kommen kann als im Männerstaat; dass Frauen die Mehrheit sind, sei auch wieder einmal gesagt.

Es gilt ja heute nicht mehr als zeitgemäss, zwischen den beiden häufigsten Geschlechtern zu unterscheiden. Doch wenn die einen sich während der längsten Zeit politisch beteiligen konnten und die anderen nicht, dann gibt es halt eine Trennlinie. Diese Beteiligung ist ein Menschenrecht. Wir freuen uns also über unsere staatspolitische Menschwerdung vor fünfzig Jahren.

Der Schreiber der Titelgeschichte „50 Jahre? – Stimmt!“ in dem anfangs erwähnten Magazin freut sich anscheinend auch. Sein Blick auf die Zeit vor 1971 bleibt hingegen unbeirrt; gelernt ist gelernt: „Von nun an dürfen die Frauen – endlich! – auch in der demokratischsten aller Demokratien zur Urne schreiten …“

Über Ingrid Rusterholtz

Ingrid Rusterholtz, 1949, Lehrerin und Heilpädagogin, Dozentin, Gleichstellungsbeauftragte Basel-Stadt. Mit meinem Lebens- und Sharing-Partner zwei Töchter 1980/1982 und drei Grosskinder. Kurse, Referate, Aufsätze im Themenspektrum Schule, Sprache, Gewalt,  un-/bezahlte Arbeit, Gender und Perspektive.

 

 

 

 

 

Sorry für das späte Frauenstimmrecht

Im eben angelaufenen Jahr wird man sich eingehend damit befassen, dass vor 50 Jahren – endlich – auch in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt wurde. Dabei wird man nicht nur jubilieren, sondern sich hoffentlich auch vergegenwärtigen, was die Gründe dafür waren, dass diese Reform derart spät zustande kam. Und dabei sollte man bis zur Frage vorstossen, ob ähnliche mentale Blockaden noch immer bestehen und weiterwirken, natürlich im eng verwandten Fragen wie Chancen- und Lohngleichheit, aber auch in anderen Reformfragen, die heute ebenfalls in der politischen Agenda stehen und auf die lange Bank geschoben werden. Der Typus der 323’882 Stimmberechtigten (immerhin 34,3%), der selbst am 7. Februar 1971 noch immer gegen die längst fällige war, ist nicht ausgestorben.

Seit einigen Jahren ist es üblich – und das ist eine gute und zugleich fragwürdige Gepflogenheit -, sich für Fehlverhalten früherer Generationen zu entschuldigen. Dabei geht es um gravierende Verstösse gegen heutige Rechtsvorstellungen, und dabei ist es wichtig, wer sich entschuldigt – nicht einfach eine Privatperson oder ein Repräsentant einer halböffentlichen Vereinigung. Entschuldigungen werden von Offizialpersonen abgegeben und erwartet, von Regierungsmitgliedern und kirchlichen Würdenträgern.

Diese neue Gepflogenheit hat auch die Schweiz erfasst. 1995 hat sich Bundespräsident Kaspar Villiger für die schweizerische Mitwirkung an der antisemitischen Passmarkierung (Stichwort: J-Stempel 1938) entschuldigt und dafür Anerkennung wie Kritik geerntet. Weniger bekannt ist die Entschuldigung, die Bundespräsident Alphons Egli bereits 1986 im Nationalrat für das den Jenischen angetane Unrecht abgegeben hat (Stichwort: Kinder der Landstrasse). Diesem Akt folgten die Entschuldigungen der beiden Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf im September 2010 und Simonetta Sommaruga im April 2013 wegen der Heim- und Verdingkinderpraxis, nicht wie im Fall Eglis in einer laufenden Parlamentsverhandlung, sondern in einem speziellen Auftritt und auch in Gegenwart von Opfern. Die bundesrätlichen Entschuldigungen erschienen als persönliche Auftritte und nicht als Akte der Gesamtregierung, obwohl sie in zwei Fällen von bundespräsidialer Warte und 1995 ausdrücklich im Namen «des Bundesrats» ausgingen.

Ein Blick auf die von Bundespräsident Egli gewählte Formulierung macht zwei besondere Aspekte sichtbar: Die Entschuldigung galt Vorkommnissen, die «vor mehr als zehn Jahren» passierten. Inhaltliche Distanzierungen können in dem Masse leichter fallen, als die Distanz zum Vorkommnis gross ist. Im Weiteren sprach Egli sein Bedauern für die Rolle des Bundes in dieser Angelegenheit aus und fuhr dann fort: „Ich scheue mich sogar nicht, mich in der Öffentlichkeit dafür zu entschuldigen…». Auf blosses Bedauern folgte – sogar – eine verbindlichere Entschuldigung. Im Japanischen soll es mindestens fünf Abstufungen von verbalen Verbeugungen geben (https://gogonihon.com/de/blog/sumimasen-oder-gomennasai-entschuldigung-auf-japanisch/).

In unseren Breitengraden kommt ein «T’schuldigung» schnell über unsere Lippen und entspringt oft nicht wirklichem Bedauern und will auf billige Weise das Gegenüber verpflichten, die Sache nicht tragisch zu nehmen (Stichwort: Löschtaste). Streng genommen kann im Grunde nur das Gegenüber entschuldigen, das reflexive «sich» ist eigentlich anmassend.

Bereits im Hinblick auf die erste gesamtschweizerische Abstimmung zur Einführung des Frauenstimmrechts haben 1958 beide noch männlich zusammengesetzte Kammern mit einem überwältigenden Mehr für die Aufhebung der politischen Frauendiskriminierung gestimmt (im Nationalrat mit 96:43 und im Ständerat mit 25:12 Stimmen). Einige dieser Volks- und Kantonsvertreter stimmten allerding nur darum dafür, weil sie davon ausgingen, dass bei der Volksabstimmung schon ein ablehnendes Votum rauskommen und damit für einige Zeit in dieser lästigen Sache wieder Ruhe eintreten wird. Wie das Nein vom 1. Februar 1959 zeigte, sollten sie Recht bekommen.

Zu einer formellen Entschuldigung für die jahrelange Rechtlosigkeit in politischen Dingen wird es anlässlich des 50 Jahr-Jubiläums wohl nicht kommen, hingegen zu mehr oder weniger ehrlichen Bekundungen des Bedauerns. Was man aber machen könnte: Man könnte alle Männer des heutigen National- und Ständerats in einer „konsultativen“ Abstimmung nochmals über die Einführung des Frauenstimmrechts entscheiden und ernsthaft darüber nachdenken lassen, ob sie und warum sie 1958 allenfalls dagegen gewesen wären und ob heute der Meinung sind, dass ein Nein schon damals eindeutig und zutiefst ungehörig war.

Über Georg Kreis

Georg Kreis, em. Prof. für Geschichte der Universität Basel und Herausgeber des Buches „Das Basler Frauenstimmrecht. Der lange Weg zur politischen Gleichberechtigung von 1966.“ Christoph Merian-Verlag 2016. 

 

Die Männer waren das Nadelöhr

Warum stimmten zwei Drittel des Männervolks 1959 gegen das Frauenstimmrecht? Wie erklärt es sich, dass zwölf Jahre später zwei Drittel der Männer dafür waren? Das sind die beiden Schlüsselfragen, um für den Schweizer Sonderfall eine Erklärung zu finden. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kannten auch andere europäischen Länder, insbesondere die drei katholischen Frankreich (1944), Italien (1946) und Belgien (1948), kein Frauenstimmrecht. Der Sonderfall beginnt gleich danach. Dazu gehörten noch eine faschistische Diktatur (Portugal, 1974) und ein reaktionäres Fürstentum (Lichtenstein, 1984).

Regression zwischen 1929 und 1959

Die Frage nach dem eidgenössischen Sonderfall wird noch schärfer angesichts der Tatsache, dass die Schweiz 1929 dem Frauenstimmrecht näher stand als 1959. 1929 kamen für eine von 13 Frauenverbänden gestartete und den beiden Linksparteien unterstützte Petition 250‘000 Unterschriften zusammen. Das entspräche heute 600‘000 Unterschriften. Gut 170‘000 Frauen und knapp 80‘000 Männer hatten unterschrieben. Das Frauenstimmrecht dürfte zwar auch 1929 an einer Mehrheit der Stimmen und erst recht der Stände gescheitert sein. Aber das Resultat wäre nicht so katastrophal ausgefallen wie dreissig Jahre später.

Was ist in der Zwischenzeit passiert? Eine erste Regression bedeutete die Infragestellung der weiblichen Berufstätigkeit in den 1930er Jahren. So führten die Katholisch-Konservativen eine Kampagne gegen das „Doppelverdienertum“ durch. Jungkonservative wollten den Frauen die ausserhäusliche Arbeit völlig verbieten. Der Katholische Frauenbund, der selber das Frauenstimmrecht ablehnte, war über die eigene Parteijugend derart entsetzt, dass er sie mit den „Herrenmenschen Mussolinis“ und „Hitler-Deutschland“ verglich. Aber etliche der Jungen der 1930er Jahre waren die Politiker der 1950er Jahre.

Während des Krieges wurde die faktisch gestiegene Berufstätigkeit der Frauen statistisch unterschlagen. Diese fand vor allem in karitativen Bereichen und in der Landwirtschaft statt oder war Teilzeitarbeit. Die Basler Historikerin Regina Wecker verbindet die Verschleierung der weiblichen Leistungen und die Überbetonung der männlichen mit der Verschleierung der „Nützlichkeit für den Gegner“ und der Überbetonung der militärischen „Abwehr gegen den Feind“. Der Rückzug ins Reduit, der aus dem meisten Grenzsoldaten wieder Arbeiter und Angestellte machte, diente nicht zuletzt der „Aufrechterhaltung der (Geschlechter-)Ordnung“. Ein „stärkerer“ und damit „sichtbarerer Einbezug von Frauen in die marktorientierte Wirtschaft hätte sowohl die männliche Hegemonie gefährdet, als auch die Siegerpose der Armee unglaubwürdig gemacht.“

Wehrmann und Hausfrau

Die Lebenslüge der Nachkriegs-Schweiz, sie verdanke ihre Verschonung primär der militärischen Abwehrbereitschaft und nicht der wirtschaftlichen Kollaboration, hängt eng mit der verschärften Ausgrenzung der Frauen zusammen. Zudem erlaubte es das Reduit, die Einheit von Männer-Staat und Männer-Heer und den Gegensatz von Wehrmann und Hausfrau im Kalten Krieg zu reaktivieren.

Der Bundesrat brachte diese Geschlechtertrennung 1958 in seiner Botschaft zum Frauenstimmrecht auf den Punkt: „Das Stimmrecht wird als Korrelat der Wehrpflicht aufgefasst.“ Unter Verweis auf die Landsgemeinde schreibt er weiter: „An ihr konnte nämlich nur der waffenfähige Bürger mitreden. Da als waffenfähig der Mann allein galt, konnte nur er als stimm- und wahlberechtigt angesehen werden.“ Diese Ideologie, die ein fester Bestandteil der Geistigen Landesverteidigung war, war in der Romandie viel schwächer verankert. Hier liegt die Haupterklärung für die Ja-Mehrheiten in den Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg.

Neben dem grossen Röstigraben gab es einen – allerdings kleineren – Konfessionsgraben. Bei einem durchschnittlichen Ja-Anteil von 33,1 Prozent lag der protestantische bei gut 37% und der katholische bei etwa 25%. Bei den Katholiken, deren Kirche selbst in den Städten immer noch im Dorf stand, wirkte das, was der nationalrätliche Hauptsprecher gegen das Frauenstimmrecht so formulierte: „Der männliche Priesterstand schliesst in allen Graden und Funktionen die Frau aus“.

Krise von Militarismus und Männlichkeit

Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erfahren sowohl der Militarismus als auch der Klerikalismus eine Aufweichung. Es ist kein Zufall, nimmt die Zahl der Militärverweigerer zwischen 1966 und 1971 ebenso spektakulär zu wie die der männlichen Frauenstimmrechtsbefürworter. Die Zahl der Verweigerer wuchs von 40 (1965) auf 122 (1966) und steigerte sich bis 1971 auf 227. Wie dramatisch die Erosion der Einheit von Bürgersoldat und Männlichkeit war, zeigen die zahllosen Konflikte um die Haarlänge im Militär und im Zivilen. Lange Haare waren der doppelte Beweis für eine unmilitärisch-weibliche Haltung und für eine armeekritische Einstellung. Die Schweizer Männer wurden reif für das Frauenstimmrecht, als sie begannen, längere Haare zu tragen. Gemäss bundesrätlicher Einschätzung vom Sommer 1969 seien „bei den Jungen wohl 90% oder noch mehr für das Frauenstimmrecht“.

Innerhalb des Katholizismus kam es zwar nicht zur kirchlichen Gleichberechtigung der Frauen, aber zu einer allgemeinen Liberalisierung. Und diese fand ihren stärksten Ausdruck in der Stimmrechtsfrage. Der Ja-Anteil der katholischen Männer stieg zwischen 1959 und 1971 von 25% auf gut 60%. Damit lag er immer noch unter dem Durchschnitt von 65,7%, aber der konfessionelle Graben war kleiner geworden. Immer noch gross war der Sprachengraben. Lag der Ja-Anteil 1971 in der Romandie deutlich über 80 Prozent, gelangte in der Deutschschweiz nur Baselstadt auf diese Höhe.

Für den spektakulären Ja-Sprung von 33,1 Prozent auf 65,7 Prozent innert zwölf Jahren werden auch andere Erklärungen vorgebracht. Die am stärksten verbreitete ist gleichzeitig die falscheste: die Modernisierung von Haushalt und Arbeit. Die weibliche Berufstätigkeit war seit den 1880er Jahren nie so tief wie 1971. Sie betrug bloss 28 Prozent, obwohl die Ausländerinnen, die zur drei Vierteln berufstätig waren, den Durchschnitt anhoben. Wer das deutliche Ja zum Frauenstimmrecht 1971 mit strukturellen Veränderungen in der Frauenwelt erklärt, ist daran zu erinnern, dass die meisten Frauen bereits in den 1950er, wahrscheinlich schon in den späten 1920er Jahren für das Frauenstimmrecht waren. Das „Nadelöhr“ für das Frauenstimmrecht bildeten, wie das Peter von Roten, der Ehemann der „Laufgitter“-Autorin Iris von Roten, schon in den 1950er Jahren betont hat, die Männer.

Über Josef Lang:

Josef Lang, alt Nationalrat, Historiker, Dr. Phil. Er veröffentlichte im Mai 2020 das Buch „Demokratie in der Schweiz“ (Verlag Hier und Jetzt), das dem Kampf um das Frauenstimmrecht breiten Platz einräumt.

Ein neuer Roman inspiriert durch die Geschichte von Schweizer Frauen

«Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln.» Dieses berühmte Zitat von L.P. Hartley entspricht bis zu einem gewissen Punkt der Wahrheit, aber Dinge, die seit Menschengedenken geschehen sind, sind nicht wirklich fremd oder vergangen. Denken wir an all die Personen, welche in einer Schweiz aufgewachsen sind, in der es für Frauen völlig normal war, nicht abzustimmen, nicht über ihr eigenes Geld bestimmen zu können oder im öffentlichen Leben sichtbar zu sein.

Mein Roman «Der Tag, an dem die Männer Nein sagten», spielt sich am 1. Februar 1959 ab –  an dem Tag, an dem die Männer eine Abstimmung über das Frauenstimmrecht abgelehnt haben. Das Parlament hatte im Jahr 1958 der längst fälligen Einführung des Frauenstimmrechts bereits zugestimmt, aber es brauchte auch die Zustimmung des Schweizer Stimmvolkes. Entgegen dem Willen des Parlaments scheiterte die Abstimmung mit 66.9% Nein-Stimmen.

Ich wohne seit 2003 in der Schweiz und in meiner Tätigkeit als Journalistin haben sich mir gegenüber viele ältere Leute – Frauen und Männer – betreffend ihrer Erfahrungen mit Ausgrenzung in dieser Ära geöffnet. Nun ist mein Interesse aber nicht nur beruflicher Art.  Ich diskutiere diese Themen immer wieder gerne in meinem Privatleben mit Freunden und Familie. Einmal hat mich eine Frau auf der Strasse angehalten, um meine Zwillingsmädchen zu bewundern. Schnell waren wir in ein Gespräch verwickelt. Sie hat mir gesagt, sie sei auch ein Zwilling, in den fünfziger Jahren geboren. Ihre Eltern hatten sie als Baby in ein Kinderheim gesandt, weil ihre Mutter es nicht bewältigen konnte, sich um zwei Säuglinge zu kümmern. Die Frau hat sich immer gefragt: «Wieso ich und nicht meine Schwester?». In ihrem Fall war Armut wahrscheinlich die Antwort darauf, aber viele andere Menschen haben wegen starrem Denken und systematischer Diskriminierung gelitten.

Mein Roman ist zum Teil von der Schweizer Feministinnen-Ikone Iris von Roten inspiriert, die 1958 mit ihrem Buch «Frauen im Laufgitter» eine detaillierte Analyse der Schweizer Gesellschaft der 1950er-Jahre vorlegte. Als ich ihre Texte übersetzt habe, hat es mir geholfen, mich in die Lebensbedingungen meiner vier Hauptcharaktere hineinzuversetzen – eine Bauernfrau, ein «Bürofräulein», eine alleinerziehende Mutter Jenischer Abstammung und eine gebildete Berufsfrau. Anscheinend wird die französische Übersetzung von Frauen im Laufgitter nächstes Jahr erscheinen. Endlich!

Wenn wir über die Vergangenheit sprechen, ist es wichtig, Frauen nicht auf ihre Opferrolle zu reduzieren. Genau wie wir, konnten die Frauen von damals lieb oder egoistisch sein, realistisch oder idealistisch. Sie hatten Spass, hatten Liebesaffären und ihnen gefiel es, Mutter zu sein. Auch mir gefiel es, mich in ihre Situation hineinzuversetzen.

Da wir uns dem 50-jährigen Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz nähern, ist es bedeutsam, sich zu überlegen, was es für Frauen hiess, so lange politisch ausgeschlossen zu sein. Geschichten erzählen ist eine wundervolle Art um bei Menschen Empathie und Verständnis für die damalige Situation von Frauen zu wecken. Aus diesem Grunde freue ich mich, dass mein Roman sowohl auf Französisch, Deutsch und Italienisch, als auch auf Englisch publiziert wird. Dies vor allem, um Schweizer Leserinnen und Leser zu erreichen. Um mehr über das Projekt zu erfahren und es zu unterstützen, können Sie einen Blick auf das Crowdfunding werfen, welches noch bis zum 22. Dezember andauert.

In meinem Sachbuch über die Schweiz, The Naked Swiss (Die wahre Schweiz / La Suisse mise à nu), habe ich ein Kapital der Situation der Frauen in der Schweiz gewidmet. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass nicht mehr so stark zwischen sogenannter Männer- und Frauensache unterschieden wird, wodurch Frauen und Männer ihre Horizonte auf erfüllende Art und Weise erweitern können. Die Schweiz darf in dieser Hinsicht jedoch sicher noch innovativer und genderkompetenter werden.

Über Clare O‘ Dea:

Bevor Clare O’Dea als Autorin mit «The Naked Swiss: A Nation Behind 10 Myths» (Die wahre Schweiz: Ein Volk und seine 10 Mythen / La Suisse mise à nu: Un peuple et ses 10 Myths) durchstartete, war sie zehn Jahren lang Journalistin bei der SRG SSR (swissinfo.ch). Die irische Doppelbürgerin und ehemalige Irish Times Journalistin wohnt auf der Sprachgrenze im Kanton Freiburg. «Der Tag, an dem die Männer Nein sagten» ist ihr erster Roman.