Eine erste Annäherung an das Thema Gleichstellung

Als ich eine Maturaarbeit über die Geschlechterquoten in Politik und Verwaltungsräten schreiben musste, habe ich mich zum ersten Mal näher mit den Themen Gleichstellung der Geschlechter und Frauenbefreiungsbewegung auseinandergesetzt und war zunächst etwas erschrocken.

Denn schon nach den ersten Recherchen wird einem bewusst, dass eine tatsächliche Gleichstellung – auch nach der engagierten Frauenbewegung im 20. Jahrhundert, die sich positiv auf die Rolle der Frauen ausgewirkt und in der westlichen Welt auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene für mehr Rechte der Frauen und Fortschritte bei der Geschlechtergleichstellung gesorgt hat – noch nicht hergestellt ist und es schwierig scheint, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu beseitigen. Darüber hinaus wird einem schnell klar, dass die Frauen allgemein unterrepräsentiert sind: nicht nur in den Parlamenten und Versammlungen, in den Organen der Exekutive, innerhalb von Parteien, in den Verwaltungsräten von Unternehmen, in der öffentlichen Verwaltung, im Finanzbereich sowie in den Gerichtshöfen und Gerichten, sondern auch in den Bereichen Sport, Medien, Wissenschaft, Forschung und Bildung. Ausserdem zeigen die Indikatoren zur Gleichstellung von Frauen und Männern und zur Diskriminierung der Frau (Gender Equality Index, Global Gender Gap Index, Glass-ceiling Index, …), dass viele Länder noch weit von einer Gleichstellung der Geschlechter entfernt sind und auf den jeweiligen Arbeitsmärkten noch eine starke vertikale und horizontale Geschlechtersegregation herrscht. Ein Beispiel hierfür: die Schweiz.

Tatsächlich sind in der Schweiz die Geschlechterstereotypen tief in der Gesellschaft verwurzelt und verankert und damit schwer zu beseitigen – ein wesentlicher Faktor im Hinblick auf die Geschlechterdiskriminierung. Wie Professorin Paola Profeta richtig anmerkt: «Die Geschlechterkultur zeigt, wie die Rollen von Frauen und Männern in der Gesellschaft gesehen werden, ihre Verantwortlichkeiten innerhalb der Familie und ihre Positionen auf dem Arbeitsmarkt»[1].

Man muss allerdings auch nicht lange suchen, um neben diesen harten Fakten auch Veröffentlichungen von zahllosen Verbänden auf der ganzen Welt zu finden, die sich engagiert für das Erreichen der Gleichstellung der Geschlechter im Allgemeinen und für die Emanzipation aller Frauen und Mädchen einsetzen. Beispielsweise der Verein CH2021: Die Feier zum fünfzigsten Jahrestag des Frauenstimmrechts in der Schweiz bietet den perfekten Anlass, um über all die Veränderungen nachzudenken, die die Abstimmung zum Frauenstimmrecht im Jahr 1971 mit sich gebracht hat – über das, was sich bereits geändert hat und das, was sich noch ändern muss, um eine tatsächliche Gleichstellung in der Politik, der Wissenschaft, der Kultur und in der Gesellschaft herzustellen.

Die Themen Chancengleichheit und Geschlechtergleichstellung erreichen nun endlich die verdiente Sichtbarkeit: Die Aufnahme der Gleichstellung der Geschlechter als eigenständiges Ziel der Agenda 2030, die weltweit von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu realisieren ist, ist ein Beweis dafür. Der Kampf gegen Geschlechterdiskriminierung ist folglich zu einer globalen Herausforderung geworden, da diese eines der grössten Hindernisse auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung und zu wirtschaftlichem Wachstum darstellt und jedes Land dieser Erde dazu aufgefordert wird, seinen Beitrag zum Erreichen einer Gleichstellung zu leisten, von denen die Gesellschaft und die gesamte Menschheit profitiert.

Die jungen Menschen sind das wichtigste Instrument, um dieses grosse Ziel zu erreichen, und ich setze mein ganzes Vertrauen in meine Altersgenossinnen und Altersgenossen und in alle nachfolgenden Generationen, denn ich bin absolut sicher, dass die Gleichstellung der Geschlechter ein erreichbares Ziel ist.

Edoardo Aostalli, Kantonales Gymasium Mendrisio, 3. Klasse

[1] P. Profeta, Parità di genere e politiche pubbliche. Misurare il progresso in Europa, Milano 2021

1. August 2021 «Das Frauenrütli»

Martha Beéry

Was für ein Tag, als «Eingeladene» aufs Rütli reisen zu dürfen! Diesmal gemeint und nicht «mitgemeint». Nach einer, mir allzu bekannten, aber bewältigbaren Panikattake, konnte ich den Tag voll geniessen. Es waren das: die Möglichkeit einer Überfahrt auf einem fast leeren zweiten Schiff – das Lunchpaket – die wunderbare Feier mit ihren vielen Facetten und dann auch die Kontakte mit mir bekannten und unbekannten Frauen.

Da waren die Frauen dabei, die ich kurz über den Stand der Motion von Frau Nationalrätin Marianne Streiff informieren konnte. Es geht um den Vorschlag, der Bundesrat solle ein Konzept für ein Nationales Frauenmuseum in Auftrag geben. Der Nationalrat gab am 9.6.21 grünes Licht und nun steht als Nächstes die Abstimmung im Ständerat bevor. Wenn auch dieser zustimmt, wäre das Anliegen: «Die Geschichte der Frauen in der Schweiz soll sichtbar werden – in einem Nationalen Frauenmuseum» einen grossen Schritt weiter. Am Konzept sollen die an diesem Anliegen interessierten Kreise mitarbeiten können.

Und dann kamen die zufälligen Begegnungen dazu, zum Beispiel mit der Schwester der Regisseurin dieser Feier, Liliana Heimberg, die auf eine leichte, feine Weise die Frauen zu feiern verstand. Es waren die Frauen die als unsere Vorgängerinnen auf verschiedensten Ebenen dafür gearbeitet und auch gekämpft haben, dass wir an diesem 1. August 2021 selbstsicher auf dem Rütli stehen konnten, auch als Kämpferinnen aber als ganz andere als «bewaffnete».

Denn irgendwie reiste da auch die Erinnerung an meinen Vater und meine Tante mit. Beide hatten 1940 als der Rütlirapport stattfand, im Hintergrund gewirkt. Mein Vater als Fahrer im Generalstab und meine Tante Marie habe General Guisan, der damals im Chalet ihres Arbeitgebers übernachtet haben soll, das Haus geöffnet und das Essen zubereitet.

Den beiden JournalistInnen, die mich befragt haben, ob sich meine Vorstellungen damals 1971 erfüllt hätten, gab ich zur Antwort: «Ich war als junge Frau nicht gerne Frau in diesem Land. Ich wollte die für mich bestimmte Rolle am Herd, ohne jegliche Selbstbestimmungsmöglichkeit, nicht erfüllen. Ich war jedoch zu unsicher, um mich ganz durchzusetzen, kämpfte deshalb immer an meinem Platz für mehr Handlungsspielraum für mich und die anderen Frauen. Heute denke ich, ich konnte mir damals gar nicht vorstellen, dass man seine Wünsche ein Leben lang «nach oben korrigieren» kann. Ich für mich habe mit dem was ich erreichen konnte, weit über meine eigenen Ziele «hinausgeschossen».

Martha Beéry-Artho
Präsidentin IG Frau und Museum

Hochkarätige unsichtbare Frauen – Regula Stämpfli und Isabel Rohner berichten vom FRAUENRÜTLI

Ein historischer Ort, ein historischer Anlass, ein historischer Tag: Am 1. August 2021 gehörte das Rütli, die wohl geschichtsträchtigste Wiese der Schweiz, den Frauen. Das gab es noch nie! Auf Einladung der Frauendachorganisation AllianceF feierten 600 hochkarätige, engagierte Frauen aus der ganzen Schweiz 50 Jahre Frauenstimmrecht. Das bedeutet 50 Jahre Demokratie, denn wir können nicht von einer Demokratie sprechen, wenn die Hälfte der Menschen kein aktives und passives Wahlrecht hat.

Bis 1971 waren die Frauen in der Schweiz von der Gesetzgebung ausgeschlossen. Das heisst: Alle Gesetze, die entstanden sind, wurden erarbeitet, ohne die Interessen der Frauen zu berücksichtigen. Kein Wunder also, waren viele, viel zu viele Gesetze gegen die Interessen der Frauen – und viele dieser Gesetze wirken bis heute nach. Man denke nur an die bis heute fehlende Individualbesteuerung, man denke an die fehlende gleichberechtigte Elternzeit. Man denke aber auch an das frauenverachtende Eherecht, das in der Schweiz noch bis 1988 galt und Ehefrauen schlicht zu den Sklavinnen ihrer Männer machte. 50 Jahre Frauenstimmrecht – das bedeutet auch 50 Jahre Ende der männlichen Vormundschaft, 50 Jahre Basis einer Gleichberechtigung, die wir hoffentlich irgendwann einmal erleben. 1971 – das war das Ende eines schrecklichen Unrechts, das den Frauen angetan wurde, indem ihnen Menschenrechte vorenthalten wurden. Ein Unrecht, das nachwirkt – und das endlich offiziell vom Bund anerkannt gehört. Doch dass das Jubiläum sichtbar wurde, ist privaten Initiativen wie CH2021 zu verdanken und eben den Frauenverbänden. Der Bund hat bislang versagt und eine historische Chance zur Aufarbeitung der Geschichte ignoriert.

Es ist schade, dass diese politische Dimension auf dem Frauenrütli leider kaum eine Rolle spielte: AllianceF und die kooperierenden Frauenorganisationen* hatten sich für ein Konzept entschieden, das nicht die Machtfrage ins Zentrum rückte und starke Bilder von politischen Frauen mit klaren Aussagen und Forderungen produzierte, sondern die fröhliche Vielfalt. Sie wollten das Rütli buchstäblich einmal anders gestalten. Und ja: Es war ja auch ein fröhlicher Anlass und viele Frauen nutzten den Tag für eine ausgelassene Feier im Regen.

Isabel Rohner mit Zita Küng, Präsidentin CH2021

Wir allerdings, wir hätten uns zugegeben mehr politisches BÄMM! gewünscht. Mit Viola Amherd und Simonetta Sommaruga haben gleich zwei Bundesrätinnen den Tag begleitet, mehrere Nationalrätinnen waren anwesend, dazu die Spitzen der Frauenverbände. Doch es sollte auf Macht und Hierarchien verzichtet werden – und so gab es keine schlagkräftige Keynote, kein Betonen von Funktionen, kein öffentliches Streitgespräch, keine Kampfansagen, sondern nur kleine Talks in familiärem Rahmen für ca. 20 Personen. Es war Isabel Rohner (Mitherausgeberin von „50 Jahre Frauenstimmrecht“), die in diesem kleinen Talk mit Bundesrätin Sommaruga übrigens die Frage nach der offiziellen Anerkennung und Entschuldigung durch den Bund auf den Tisch brachte. „Ja, den Frauen ist hier Unrecht geschehen“, antwortete Simonetta Sommaruga. Doch wichtiger als eine Entschuldigung für vergangenes Leid sei die Beseitigung heutiger Missstände.

Doch das Eine geht nicht ohne das Andere.

So sehr auch wir den Tag und die vielen Gespräche mit großartigen Frauen genossen haben und wir den Einsatz von AllianceF wertschätzen: Wir hätten uns gewünscht, dass der Anlass auch stärker dazu genutzt worden wäre, die Frauen sichtbar zu machen, die sich in den vergangenen Jahren so stark für dieses Jubiläum eingesetzt haben. Dazu hätte auch ganz klar Zita Küng, die Präsidentin von CH2021 gehört, und – bei aller Bescheidenheit – auch die Macherinnen des Buches „50 Jahre Frauenstimmrecht“ und von „Die Podcastin“.

Stattdessen wurden vier Frauen aus den vier Landesregionen ausgezeichnet – und dies „per Los“. Man wollte eben auch keine Hierarchie des Engagements.

Und auch die Berichterstattung war – mit wenigen Ausnahmen – erschreckend unpolitisch: „Vegi-Lunch statt Cervelat“ überschrieb die Tagesschau ihren Bericht. Was für eine Verkennung, worum es an diesem Tag eigentlich ging.

Zu den Autorinnen:

Politphilosophin Dr. Regula Stämpfli und Frauengeschichtsexpertin Dr. Isabel Rohner sind die Macherinnen von „Die Podcastin – der feministische Wochenrückblick“. Dem Frauenrütli widmen sie eine ganze Folge. Nachzuhören auf www.diepodcastin.de

Regula Stämpfli und Isabel Rohner

* dazu gehören: die Evangelischen Frauen Schweiz EFS, der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband SBLV, der Dachverband Schweizerischer Gemeinnütziger Frauen SGF, der Schweizerische Katholische Frauenbund SKF, CH2021 und die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF.

Ökumenische Aktion „HELVETIA predigt!“

Ökumenische Aktion „HELVETIA predigt!“ der Evangelischen Frauen Schweiz (EFS) und des Schweizerischen Katholischen Frauenbundes (SKF): Frauen predigen am Sonntag, 1. August 2021

Neun Thesen zu 50 Jahre Frauenstimmrecht und 102 Jahre Frauenpfarramt

Vorbemerkung: Im Folgenden geht es um eine historische Analyse und nicht um konfessionelle Polemik.

1. Erst 50 Jahre Frauenstimmrecht und schon 102 Jahre Frauen im Pfarramt?

Am 7. Februar 1971 nahmen die stimmberechtigten Männer im zweiten Anlauf die Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene an. Elise Pfister (1886-1944) hat in der Kirchgemeinde Zürich-Neumünster „als erste in ein Pfarramt (…) eintreten dürfen. Das war am 19. Januar 1919“. Das schrieb Rosa Gutknecht (1885-1959) in ihrem Nachruf auf Pfister. Gutknecht trat am 16. Juni 1919 am Grossmünster als zweite Frau ins Pfarramt. Seither sind bei den Schweizer Reformierten Frauen im Pfarramt präsent. Allerdings wurden sie erst in den „langen 1960er-Jahren“ (Mitte der 1950-Jahre bis zum Ausbruch der Ölkrise 1973), einer Zeit der Reformideen und des gesellschaftlichen Aufbruchs, durch kantonale oder kirchliche Volksabstimmungen mit den Pfarrern gleichgestellt. In diesem Zeitraum wurde auch in Gemeinde, Kanton und Bund das Frauenstimmrecht eingeführt – in ein paar unrühmlichen Ausnahmen sogar noch später. In einigen Kantonen hatten die Frauen vor dem Stimmrecht das passive Wahlrecht in einzelne Behörden erhalten: So wurde die Pazifistin und Frauenrechtlerin Clara Ragaz-Nadig 1912 in die Kreisschulpflege in Zürich gewählt.

Elise Pfister in Neumünster 1939

2. Mehrere Hundert Volksabstimmungen in Gemeinde, Kanton und Bund zwischen 1900 und 1990

Einführung des Frauenstimmrechts meint die politische Gleichberechtigung der Frau, die Erteilung des Aktivbürgerrechts. Dieses umfasst die Ausübung des Stimmrechts in Sachfragen, das aktive und passive Wahlrecht sowie das Recht, Initiativen und Referenden zu unterschreiben: in der Gemeinde, im Kanton und im Bund. Dazu waren zwei eidgenössische, mehr als 100 kantonale und mehrere Hundert Gemeinde-Abstimmungen der stimmberechtigten Männer erforderlich. In einigen Kantonen erfolgte die Einführung des Frauenstimmrechts nicht integral, sondern es wurde den Gemeinden überlassen. In Graubünden beispielsweise wurde in jeder politischen Gemeinde darüber abgestimmt, total 217 Männerabstimmungen zwischen 1968 und 1983.

3. Frauenstimmrecht und Frauenpfarramt gehören inhaltlich und rechtlich zusammen

Das reformierte Pfarramt war ein öffentliches Amt. Wäre in einer kantonalen Volksabstimmung das integrale Frauenstimmrecht angenommen worden, hätte dies das passive Wahlrecht auf alle öffentlichen Ämter bedeutet. Theologinnen hätten auf die ordentlichen, vom Kanton bezahlten Pfarrstellen gewählt werden können, wären gleichgestellt worden. Der andere Weg führte über die Einführung des passiven Frauenwahlrechts für einzelne Ämter wie das Pfarr-Amt, durch eine kantonale Männerabstimmung. So war es z. B. in der Zürcher Staatskirche. In andern Kantonalkirchen war für die Gleichstellung der Theologinnen eine kantonalkirchliche Volksabstimmung erforderlich. Als 1928 in der privatrechtlich organisierten Genfer Kantonalkirche die weiblichen und männlichen Kirchenmitglieder das Frauenpfarramt annahmen, schrieb Emilie Gourd (1879-1946), eine der profiliertesten Schweizer Frauenrechtlerinnen, in ihrem Abstimmungsaufruf, dass es hier auch um „une question de féminisme“ gehe. Ein Nein hätte verheerende Folgen „pour la cause du suffrage féminin“ (Le Mouvement Féministe 23.11.1928).

4. Für Frauenstimmrecht und Frauenpfarramt gilt: „Das kommt so wie so“ (1917) 

Als die Basler Kirchensynode 1917 das kirchliche Frauenstimmrecht behandelte, schlug ein liberaler Pfarrer gleich auch noch das passive Wahlrecht für Pfarrerinnen vor: „das kommt so wie so“. Zur gleichen Zeit gestand ein Pfarrer der konservativen Richtung ebenfalls ein, dass «der weibliche Pfarrer» kommen werde, weil «nun einmal im Zuge der Zeit liegend». Auf politischer Ebene forderten die freisinnigen Aargauer Nachrichten 1917 bürgerliche Parteien auf, für Frauenrechte einzutreten und die Frage nicht der Sozialdemokratischen Partei zu überlassen, „da das Frauenstimmrecht ja doch kommt“. Befürworter des Frauenstimmrechts teilten diese Einschätzung ohnehin. Doch auch nüchtern denkende Gegner mussten zwangsläufig zu dieser Einsicht kommen. Für sie ging es darum, die Einführung möglichst lange hinauszuzögern. Sie wurden umso heftiger, je auswegloser ihr Kampf war.

5. Das Frauenstimmrecht wurde zunächst in den Kantonalkirchen und später in den jeweiligen Kantonen eingeführt

Aus dieser Tatsache schlossen im Jubiläumsjahr einzelne Kirchenzeitungen, dass die Kirchen fortschrittlicher gewesen seien als der Staat. Das ist ein Trugschluss und stimmt nicht mit den Fakten überein: In mehreren Kantonen (z. B. BE, GL, SO, ZH) entschied der politische Männersouverän über die Einführung des Frauenstimmrechts in der jeweiligen Kantonalkirche und nicht die Kirchenmitglieder. Hier war das kirchliche Frauenstimmrecht noch ein Bestandteil des Aktivbürgerrechts. In anderen Kantonen (z. B. SG, SH) wurde quasi doppelt über das Frauenstimmrecht abgestimmt: Zunächst erlaubte eine staatliche Männerabstimmung durch eine Änderung der Kantonsverfassung den Kirchen, das Frauenstimmrecht einzuführen. Anschliessend führte eine kantonalkirchliche Männerabstimmung das kirchliche Frauenstimmrecht dann faktisch ein. Hier stimmte der Mann einmal als Staatsbürger, das andere Mal als reformiertes Kirchenmitglied, beides gehörte für ihn zusammen. Der Antagonismus zwischen Kirche und Staat ist ein Phänomen, das erst mit den nach „1968“ kontinuierlich steigenden Kirchenaustritten und dem massiven Bedeutungsverlust der Kantonalkirchen nach 2000 auftrat. Dem föderalistischen Staatsaufbau entsprechend strebte die Politik, auch die SP, die Einführung des Frauenstimmrechts zunächst in Kirche und Schule und anschliessend im Staat an. Die Stimmrechtlerinnen unterstützten diese Strategie, auch wenn sie immer am vollen Stimmrecht festhielten. Sie forderten es in zahlreichen Petitionen und Eingaben. Aufgeschlossene Pfarrer und Politiker reagierten positiv darauf,  reaktionäre Kirchen- und Staatsmänner kämpften dagegen. Die reformierten Kantonalkirchen sind kein homogener Block. Kirchenpolitik und Theologie werden durch Gruppen bestimmt: Liberale, Religiös-Soziale, Konservative (sog. Positive).

6. Im Ja bzw. Nein zum Frauenstimmrecht und zum Frauenpfarramt widerspiegelt sich die persönliche Haltung des Stimmberechtigten zur Frau

Gegen Frauenstimmrecht und Frauenpfarramt wurde u. a. mit dem sog. Schweigegebot („Das Weib schweige in der Gemeinde“, 1. Korintherbrief 14, 34f.) argumentiert. Hinter diesem und allen anderen vorgebrachten Argumenten verbargen sich jedoch die eigentlichen Motive wie Neid, Angst vor Machtverlust und Konkurrenz. Im Kern ging es um das Frauenbild des Mannes: Ist die Frau ihm untertan als Sklavin, Magd, Dienerin? Oder ist sie ein gleichwertiger, vielleicht sogar gleichgestellter Mensch? Ein Sekundarlehrer lehnte 1921 in der Zürcher Kirchensynode die Pfarrerin ab: „Die Frau kann doch nicht die Seelsorge auch der Männerwelt übernehmen.“ Und: „Rückt die Frau in erste Linie, dann steht es nach dem Volksempfinden nicht gut.“ Deshalb seien Lehrerin und Pfarrer zweierlei: „Die Lehrerin erzieht die Jugend, der Pfarrer aber hat die Gemeinde der Erwachsenen zu erziehen.“ Erst mit dem Mentalitätswandel in den „langen 1960er Jahren“ begannen die Rollenbilder der Geschlechter langsam zu ändern, ein gesellschaftlicher Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist.

7. Frauenordination bedeutet nicht Gleichstellung

Schon am 27. Oktober 1918 waren in der Kirche St. Peter in Zürich Rosa Gutknecht und Elise Pfister durch den Zürcher Kirchenrat „zum geistlichen Amt“ ordiniert worden – die erste Frauenordination in der Schweiz. Drei Faktoren gaben den Ausschlag: 1. glaubwürdige Gesuchstellerinnen, 2. aufgeschlossene Behörde (Entscheidträger), 3. günstige Zeitstimmung („Zeitgeist“). Mit der Ordination anerkennt die Kantonalkirche die ergangene Berufung. Doch damit konnten die Theologinnen nicht automatisch wie die Männer auf ordentliche Pfarrstellen gewählt werden, sondern mussten bis zur Gleichstellung auf gemeindeeigenen Pfarrstellen amten. Wichtiger als die Ordination war den Theologinnen primär die Möglichkeit, im Pfarramt wirken und so ihrer Berufung nachkommen zu können.

Rosa Gutknecht

8. „Denkt an eure Pfarrerinnen, die euch das Wort Gottes gepredigt haben. Schaut auf ihren Lebenswandel und ahmt ihren Glauben nach“ (Hebräerbrief 13,7) – die frühen Pfarrerinnen: Wegbereiterinnen der Frauenemanzipation

Die Pfarrerinnen vor der Gleichstellung arbeiteten mit der Frauenbewegung zusammen: Rosa Gutknecht etwa hielt 1929 an der Jahresversammlung des Bundes schweizerischer Frauenvereine (heute alliance f) in Herisau AR den Gottesdienst: „Vielleicht hat diese Predigt mehr als unsere ganze Versammlung den Boden für die Frauensache im Appenzellerland gelockert“, schrieb das Schweizer Frauenblatt (SFB 11.10.1929). Seit 1919 bestiegen Frauen die Kanzel und überzeugten insbesondere an Abdankungen auch ein kirchenfernes Publikum, dass Pfarrerinnen den Pfarrern (zumindest) ebenbürtig sind. Rednerinnen im öffentlichen Raum waren damals selten. Am 1. August bestiegen sie beispielsweise die Redekanzel. Rosa Neuenschwander in Bern tat das 1941 als erste Frau in der Schweiz. Ab 1957 wurden dann Frauen vermehrt als 1.August-Rednerinnen eingeladen. Die frühen Pfarrerinnen wurden für viele zum Vorbild: «Ich glaube diese Zeit mit Frl. Pfr. Merz war für viele von uns mitbestimmend, und grundlegend, für den späteren Einsatz für die Gleichberechtigung von Mann und Frau», schrieb eine Lenzburger Konfirmandin beim Tod von Mathilde Merz (1899-1987).

9. „Wir Männer sind gegen das Frauenstimmrecht, weil nur Männer Priester sein dürfen“ (Karl Wick, 1891-1969, katholisch-konservativer Ständerat LU und Chefredaktor der Tageszeitung Vaterland)  

Die katholische Amtskirche lehnte aufgrund ihres reaktionären Frauenbildes lange das Frauenstimmrecht ab. Politiker und Katholikinnen übernahmen beide Positionen. Erst im Vorfeld der ersten eidgenössischen Abstimmung über das Frauenstimmrecht am 1. Februar 1959 emanzipierte sich der Schweizerische Katholische Frauenbund von der klerikalen Bevormundung und gab die Ja-Parole heraus. Geblieben ist das kategorische Nein zur Frauenordination, das sich mit These 7 erklären lässt: Glaubwürdige Kandidatinnen sind da (1; dazu: Philippa Rath (Hg.), „Weil Gott es so will“. Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin, Freiburg i.B. 2021), der Entscheidträger (Vatikan) ist der demokratischen Kontrolle jedoch entzogen und kann die Frage konstant blockieren (2), und die allgemeine Zeitstimmung im Moment ist nicht auf Reformen ausgerichtet (3).

Über den Autor: 

Pierre Aerne ist Mitglied des Vereins CH2021. Er forscht und publiziert über Frauenpfarramt und Frauenstimmrecht.

Links:

Wie beurteilen wir ein halbes Jahrhundert?

Ein halbes Jahrhundert ist es also her, seit Frauen in der Schweiz auch von dem demokratischen Grundrecht schlechthin Gebrauch machen dürfen. Wir blicken (zum zigtausendsten Mal seit Mitte des letzten Jahres) zurück und fragen uns: Wo stehen wir heute?

Exemplarisch verfolgen uns dabei die Evaluationen anhand der am leichtesten verfügbaren Zahlen: den Frauenanteilen in politischen Gremien (Derungs et al., 2014, S.60). 2019 schien es auf den ersten Blick, als könnten wir eine ausgezeichnete Bilanz ziehen. Sowohl im Nationalrat als auch im Ständerat lag der prozentuale Anteil der Parlamentarierinnen so hoch wie nie zu vor (DSJ, 2020). Bilden diese Zahlen bereits alles ab, was sich in diesen 50 Jahren getan hat?

Lückenhafte Datenlage

Zum einen können wir uns fragen, wie repräsentativ der Überbegriff der „Frauen“ ist. Denn ein zweiter Blick zeigt, dass Politikerinnen im Schnitt gut ausgebildet und nur wenig jünger als ihr Stimmrecht sind. Wie steht es denn um die Beteiligung junger Frauen? Um die Partizipation nicht-weisser Menschen, um die nicht-Akademikerinnen oder um queere Menschen in der Politik – oder um Menschen, die in mehrere dieser Kategorien fallen? Die Datenlage lässt dazu auch in der Schweiz noch wenig Schlüsse zu (Derungs et al., 2014, S. 96).

Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, wie aussagekräftig der Blick auf die Aufteilung des Parlaments ist. Schliesslich stellen parlamentarische Aktivitäten nur einen Teil der politischen Partizipation dar. Andere Aspekte davon liessen sich etwa über die Entwicklung der Stimm- und Wahlbeteiligung von Frauen oder die Engagements im Rahmen von nicht-institutionalisierten politischen Bewegungen untersuchen (DSJ, 2021b). Oder darüber, warum Frauen sich trotz Interesse und vergleichsweise hoher Chancen seltener zur Wahl stellen (DSJ, 2021a).

Partizipation abseits der Zahlen

Aber auch abseits dieser Zahlen können wir fragen, wie die gemessene Partizipation in der Praxis aussieht. So kommen auch in Gremien mit höherem Frauenanteil tendenziell eher Männer zur Sprache (Beobachter, 2019). Und Politikerinnen erfahren unter anderem durch ihre Präsenz in der Öffentlichkeit verstärkt rassistische und sexistische Angriffe (Republik, 2021). Wie nehmen sich Politikerinnen in ihrer Rolle wahr? Wie gehen sie mit den Strukturen um, in welchen sie arbeiten? Auch dazu fehlen bisher repräsentative Umfragen für die Schweiz.

Dabei wäre gerade diese Forschung für die Evaluation der vergangenen 50 Jahre zentral. Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass das Ziel des Stimmrechts darin besteht, dass mündige Personen an politischen Entscheidungen teilhaben (Küng, 2020), müssten wir uns auch bei einem Rückblick daran orientieren. Dazu müssten wir uns drei Themenfelder genauer anschauen.

Was heisst Mitsprache?

Erstens wäre ein Blick darauf angemessen, was vor der Partizipation geschieht bzw. geschehen muss. Wenn Frauen sich nicht in einem Milizamt sehen (wollen), müssten wir uns fragen, woran das liegt. Und wenn wir die Miliztätigkeit fördern wollen, müsste die Frage lauten, wie potenzielle Kandidat*innen bestmöglich gefördert werden können.

Zweitens müsste klarer sein, was wir unter „Beteiligung“ verstehen. Geht es um die Erhöhung eines numerischen Anteils, oder gehören auch qualitative Merkmale dazu? Sowohl die Begrifflichkeiten als auch die Zielsetzung scheinen in den Diskussionen zum Fortschritt seit 1971 nicht ganz klar zu sein.

Und drittens müssen die Massstäbe definiert werden, anhand welcher wir die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte beurteilen. Gewisse Massstäbe setzen wir bereits implizit, wenn wir darüber sprechen, wie viel weiter wir seit der Einführung des Frauenstimmrechts gekommen seien. Aber erst die explizite Auseinandersetzung damit erlaubt uns, Lücken sichtbar zu machen. Wie sehr berücksichtigen wir die unterschiedlichen Erfahrungen innerhalb des Oberbegriffs „der politisch aktiven Frau“? Wie beurteilen wir die Teilhabe von Menschen, die nicht in eine oder in mehr als eine Schublade passen? Ab wann gilt die Mitsprache als vollständig – reichen 42% im Nationalrat aus?

Solche und ähnliche Fragen wären für Diskussionen über politische Beteiligung gerade in diesem Jubiläumsjahr zentral. Die eine, richtige Antwort gibt es darauf natürlich nicht. Wenn wir uns diesen Fragen aber deshalb einfach nicht stellen, wird eine angemessene Evaluation schwierig.

Die Autorin

Léonie Hagen ist Präsidentin des Jugendrat Brig-Glis und Vorstandsmitglied beim Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ).

Quellenverzeichnis

Beobachter, 2019. Im Bundeshaus reden Frauen weniger.

Derungs, Flurina, Lüthi, Janine, Schnegg, Brigitte, Wenger, Nadine, Ganzfried, Miriam. 2014. Gleichstellung von Frau und Mann. Aktionsplan der Schweiz: Bilanz 1999-2014. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann.

DSJ, 2021. Geht der Siegeszug der Frauen durch alle föderalen Ebenen weiter?

DSJ, 2021. Partizipieren Frauen politisch anders als Männer?

DSJ, 2020. Das Parlament 2019–2023 – repräsentativ für die Jugend?

Küng, Zita. 2020. Demokratie denken. CH2021.

Republik, 2021. Aber wehe, sie machen den Mund auf.

#NCCRWomen-Kampagne

Welche Rolle spielen Frauen in der wissenschaftlichen Forschung in der Schweiz? Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Stimm- und Wahlrechts für Frauen in der Schweiz haben sich die Nationalen Forschungsschwerpunkte für eine Videokampagne zusammengeschlossen, um die Bedeutung der Frauen in der Schweizer Forschungslandschaft hervorzuheben.  

Ein Nationaler Forschungsschwerpunkt, kurz NFS, ist ein Förderungsinstrument des Schweizerischen Nationalfonds zum Aufbau eines Forschungsnetzwerks aus in der Schweiz ansässigen Wissenschaftlern, die gemeinsam an der Lösung eines Problems oder einer Fragestellung arbeiten. Derzeit befassen sich 22 NFS mit fast allen erdenklichen Themen: von der Quantenphysik oder dem Einsatz von Robotern für eine nachhaltigere Architektur bis hin zu den physiologischen Ursachen von psychischen Erkrankungen oder der Entstehung und Evolution von Planeten. Vor 50 Jahren stellten Frauen in der Forschung eine sehr kleine Minderheit dar: Nur 1% der Frauen hatten in der Schweiz überhaupt einen Hochschulabschluss (Ein Portrait der Schweiz: Ergebnisse aus den Volkszählungen 2010-2014). Auch heute noch ist die Geschlechterparität vor allem in den technischen und ingenieurwissenschaftlichen Fächern bei weitem nicht erreicht, und der Anteil der Wissenschaftlerinnen sinkt, je höher man in der Hierarchie aufsteigt. Die Situation hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten stark verbessert, und heute spielen Frauen in der Schweiz in allen Forschungsbereichen eine zentrale Rolle.

Die Schweizer NFS wollen der Öffentlichkeit zeigen, dass Forscherinnen in allen Bereichen der Wissenschaft aktiv und unverzichtbar sind. Frauen sind Mathematikerinnen, Chemikerinnen, Ingenieurinnen, Biologinnen, Ärztinnen, Soziologinnen, Architektinnen, Linguistinnen, Astronominnen… Wir wollen junge Mädchen und Frauen für eine Karriere in der Forschung begeistern, indem wir ihnen zeigen, wie der Alltag einer Wissenschaftlerin aussieht und indem wir unsere Leidenschaft für die Forschung mit ihnen teilen.

Vom 8. März, dem Internationalen Frauentag, bis zum 31. Oktober 2021, auf den Tag genau 50 Jahre nach dem ersten Bundeswahlrecht, an dem Frauen teilnehmen durften, wird jeder NFS eine Reihe von Videos ausstrahlen, die die Arbeit einiger seiner inspirierenden Wissenschaftlerinnen vorstellen.

Die Videos sind auf Französisch, Deutsch und Englisch untertitelt und auf YouTube und Instagram verfügbar:

Videos auf Englisch / Videos auf Französisch

Ich bin wirklich fasziniert von der Welt der Quantenphysik. Sie fühlt sich so weit weg von unserer Realität an, und doch ist sie ihr Stoff.“ Chiara Decaroli

Habt keine Angst, neue Dinge auszuprobieren und euch selbst herauszufordern. Es öffnet neue Türen und Möglichkeiten.“ Mahsa Rahimi-Siegrist

Als ich in einer kleinen Stadt in Kentucky aufwuchs, hätte ich mir nie vorstellen können, Wissenschaftlerin zu werden. Aber ich habe es von Anfang an geliebt, in einem Labor zu arbeiten.“ Alyson Hockenberry

Für mich läuft es auf die Neugierde hinaus. Eine Frage führt zur nächsten. Zu versuchen, sie zu beantworten, ist herausfordernd, macht aber viel Spass.“ Inés Ariza:

„Das bisschen Haushalt …“ zum Zweiten

Esther Gisler Fischer Pfarrerin / lic. sc. rel.

„Das bisschen Haushalt macht sich von allein“ sagt mein Mann
„Das bisschen Haushalt kann so schlimm nicht sein“ sagt mein Mann
„Wie eine Frau sich überhaupt beklagen kann, ist unbegreiflich“ sagt mein Mann.“

Mit diesem Lied schaffte es die Hamburger Schlagersängerin Johanna von Koczian im Jahre 1977 in die deutsche Hitparade. Mehr als 40 lange Jahre sind das her und nach wie vor wird tagtäglich geputzt, gekocht, Kinder und alte Menschen versorgt etc. etc. Dabei wird diese Art von Arbeit meist unbezahlt geleistet, meist in Privathaushalten und nach wie vor mehrheitlich von Frauen. Seit 1997 erhebt in unserem Land das Bundesamt für Statistik im sogenannten «Satellitenkonto Haushaltsproduktion» die entsprechenden Zahlen für die Schweiz. Am 11. Dezember 2017 wurden die neusten Daten publiziert:

„9,2 Milliarden Stunden sind im Jahr 2016 in der Schweiz unbezahlt gearbeitet worden. Das ist mehr als für bezahlte Arbeit aufgewendet wurde (7,9 Milliarden Stunden). Die gesamte im Jahr 2016 geleistete unbezahlte Arbeit wird auf einen Geldwert von 408 Milliarden Franken geschätzt… Die Frauen übernehmen 61,3% des unbezahlten Arbeitsvolumens, die Männer 61,6% des bezahlten Arbeitsvolumens… Die Hausarbeiten (ohne Betreuungsaufgaben) machen mit 7,1 Milliarden Stunden gut drei Viertel des Gesamtvolumens an unbezahlter Arbeit aus (77%). Die Betreuungsaufgaben für Kinder und Erwachsene im eigenen Haushalt lassen sich mit 1,5 Milliarden Stunden pro Jahr beziffern (16% des Gesamtvolumens) …“

Wo stehen wir heute im Jubiläumsjahr von 50 Jahren Frauenstimm- und -wahlrecht? Wie können Frauen Erwerbs- und Care-Arbeit befriedigend unter den sprichwörtlichen Hut bringen?Wie kann die unbezahlte Arbeit angemessen anerkannt werden? Sind wir inzwischen gar einer Wirtschaft, die nicht mehr das Geld, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ins Zentrum stellt, näher gerückt? Wie muss Wirtschaft neu gedacht werden, wenn offensichtlich in der Praxis etwas anderes als Geld im Zentrum steht? Wie haben die Politik, die Medien, die Wissenschaft, die Kirchen das Datenmaterial in diesem Sinne genutzt? Wie sieht die care-zentrierte Wirtschaft der Zukunft aus?

Diesen Fragen geht dieser Jahr die „7. Schweizer Frauensynode“ nach. Sie findet in der Corona-Variante dieses Jahr zum Thema ‚Wirtschaft ist Care‘ dezentral statt. Die erste Schweizer Frauensynode trug übrigens dazu bei, dass die unbezahlte Arbeit überhaupt statistisch erfasst wird: Mehr als tausend Frauen diskutierten am 6. Mai 1995 in der St. Galler OLMA-Halle zum Thema „Frauenarbeit zwischen Chrampf und Befreiung“. Sie unterstützten die entscheidende Motion 94.33-09 von Nationalrätin Christine Goll. Die Frauensynode wie auch die einschlägigen parlamentarischen Vorstösse stehen in der Tradition der feministischen Hausarbeitsdebatte der 1970er und 1980er Jahre. Fragen rund um Care-Arbeit, ausserhäusliche Kinderbetreuung und was sie kosten darf, sowie Care-Migrantinnen nahmen im Vorfeld, während und im Nachgang zum zweiten schweizerischen Frauenstreik vom 14. Juni  2019 wieder Fahrt auf.

Die Frauensynode2021 möchte zu diesem Perspektiven- und Paradigmawechsel beitragen: Weg vom Kreisen ums Geld hin zum Kerngeschäft der Wirtschaft, der Befriedigung von grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und zwar für möglichst alle Menschen in unserem Land wie auf diesem unserem so schönen und verletzlichen Planeten.

Und zwischendurch putze und koche ich. Denn: „Das bisschen Haushalt …!

Links zum Thema:

Lied von Johanna von Koczian:
https://www.youtube.com/watch?v=NoZ050vCa8c

Satellitenkonto Haushaltproduktion:
https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/unbezahlte-arbeit/satellitenkonto-haushaltsproduktion.html

Zur Frauensynode:
https://www.frauensynode2021.ch/

Frauenstreik 14. Juni 2021

Demokratie: Dampf machen

Liebe Leser*innen
Der 14. Juni ist für unsere Demokratie ein wichtiges Datum. 1981 haben die Schweizerinnen und Schweizer dem Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Gleiche Rechte für Mann und Frau» zugestimmt und diesen Grundsatz in die Verfassung aufgenommen. Pikantes Detail: Hätten die Männer allein abgestimmt, wäre der Grundsatz abgelehnt worden.
Es waren also mehrheitlich die Frauen, die auf die gleichen Rechte pochten. Seither wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass den gleichen Rechten auch die tatsächliche Gleichstellung im gelebten Leben folgen müsse. Damit tut sich unsere Gesellschaft nach wie vor schwer.

«Viele Frauen (und Männer) sind noch unzufrieden mit der Umsetzung dieses Demokratieaspektes. Sie sind auch bereit, das in der Öffentlichkeit zu zeigen, die Diskussion dazu zu führen.» Zita Küng
Wenn wir die Programmpunkte am 14. Juni 2021 schweizweit anschauen, dann ist klar: Viele Frauen (und Männer) sind noch unzufrieden mit der Umsetzung dieses Demokratieaspektes. Sie sind auch bereit, das in der Öffentlichkeit zu zeigen, die Diskussion dazu zu führen. Das ist nötig. Unsere Verfassung ist eben nicht «toter Buchstabe», sondern ein Recht!
Warum hat der Vorstand des Vereins CH2021 ein Manifest zum 7. Februar 2021 verfasst? Weil einerseits Bewusstsein geschaffen werden soll, dass selbst das Stimm- und Wahlrecht für die Schweizerinnen nicht automatisch über uns kam, sondern von Generationen von Frauen (und Männern) erkämpft werden musste. Andererseits weil den Leuten von heute auch deutlich werden soll, wie unwürdig und verachtend es für die Frauen vor 1971 war, dass ihnen dieses fundamentale Recht vorenthalten wurde.Im dritten Punkt fordert das Manifest: «Blick nach vorn: Call for Action! «Dampf machen». Wir fordern den Bundesrat auf, in der nächsten Session einen Tag des Erkennens und Anerkennens des Unrechts und der Konsequenzen der Verweigerung des Frauenstimmrechts anzusetzen. Ziel ist es, aus den identifizierten Defiziten einen zeitlich verbindlichen Aktionsplan zur Verwirklichung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung zu verfassen. Das gewonnene Wissen und Verständnis sollen dazu führen, dass sich die vereinigte Bundesversammlung, die Regierung, aber auch die Öffentlichkeit, besonders die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen, ihrer kollektiven Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst werden, um Diskriminierung zu überwinden – in jeglicher Form.»Die Verantwortlichen und das gesamte Volk sind aufgerufen, diese Anliegen ernst zu nehmen.
Wir wünschen deshalb allen aktiven Frauen und Männern am 14. Juni 2021 viel Erfolg!Zita Küng, Präsidentin Verein CH2021

Die einzig denkbare Zukunft

Auch das Schweizer Frauenstimmrecht hat endlich einen runden Geburtstag erreicht – und wir Frauen, Femist*innen, Kämpfer*innen, Töchter und Mütter schauen zurück.

Zum Vergleich: Österreich feierte 2018 hundert Jahre Frauenstimmrecht. 2021 feiern wir 50 Jahre; dank Frauen wie Emilie Gourd, Antoinette Quinche oder die ehemalige SP-Ständerätin Emilie Lieberherr, die nicht locker liessen. Sie wollten die Frauen rechtlich  den Männern gleichgestellt sehen – das war ihre Vision.

Sie führten nach und nach das Frauenstimmrecht auf kommunalen Ebenen ein und sie warfen den Bettel nicht hin als die Schweizer Männer im Februar 1959 das Frauenstimmrecht ablehnten. Viel zu wichtig, viel zu grundsätzlich war dieses demokratische Anliegen der sogenannten ersten feministischen Welle, der Suffragetten und Egalitätsfeminist*innen.

Es waren auch diese Egalitätsfeminist*innen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich für die Ausweitung der Bildung auf Frauen* und ein Recht auf Arbeit einsetzten. Frauen und Männer sollten Gleichstellung erfahren. Auf den Schultern dieser stolzen Gigantinnen baut unser heutiger Kampf. Ein Kampf, der sich weiterentwickelt hat; inklusiver und differenzierter wurde. Anders als bei den Egalitätsfeminist*innen vor 50 Jahren und den liberalen Feminist*innen sind unsere Ziele radikaler, unsere Kämpfe vielfältiger.

Wenn der Frauen*streik 2019 fordert “Lohn, Zeit, Respekt”, dann wollen wir linken FINTs keine Gleichstellung mit den ebenfalls durch den Kapitalismus und das Patriarchat ausgebeuteten cis-Männern. Wir wollen keine Chancengleichheit in diesem maroden System, das endliche Ressourcen und die Natur behandelt, als wäre es Mary Poppins magische Reisetasche. Wir wollen nicht möglichst viele FINTs in die Teppichetagen der Konzerne pushen. Das wäre eine weitere Form der Meritokratie und damit geben wir uns nicht (mehr) zufrieden.

Wir wollen die feministische Revolution.

Unser Feminismus bedeutet mehr als Gleichstellung, manchmal vergisst das die Linke. Feminismus bedeutet für die Freiheit jedes einzelnen Menschen dieser Erde zu kämpfen, Unterschiede wahrzunehmen und zu respektieren. Es bedeutet “jede*r nach seinen*ihren Bedürfnisse und Möglichkeiten” statt “jedem Chancengleichheit auf gleiche Ausbeutung in der kapitalistischen Lotterie des Lebens”.

Linker Feminismus definiert Arbeit neu, integriert die unbezahlte Care Arbeit in ihre Überlegungen und anerkennt, wer den Löw*innenanteil eben dieser Arbeit in der Schweiz und global leistet. Eben nicht die Teppichetagen. Es sind die Mütter, die Pfleger*innen, die Kinderbetreuer*innen, die Putzkräfte, die Detailhandelsangestellten. Es sind die Näher*innen, Fabrikarbeiter*innen und Feldarbeiter*innen im globalen Süden. Alles mehrheitlich FINTs. Würden sie alle nur eine Stunde streiken, die Welt würde im Chaos versinken. Und dennoch wird diese Arbeit grossmehrheitlich gratis oder unter miserabler Entlohnung, sowie enormen Zeitdruck geleistet. Diese Arbeit muss erkannt und respektiert werden. Sie braucht Zeit und öffentliche Gelder.

Feminismus fordert ein gutes Leben für alle. Ein freies Leben. Wir FINTs müssen die Selbstbestimmung über unsere Körper, unsere Beziehungen, unsere Identitäten haben. Wir sind keine Geburtsmaschinen für neue Arbeitskräfte des Kapitalismus, Abtreibungen müssen allen zugänglich sein und bleiben. Wenn wir aber Kinder wollen, dann muss sich die Wirtschafts an uns orientieren – und nicht wir uns an der Wirtschaft.

Wir müssen nicht herkömmlichen Mustern wie Heteropartnerschaften, Ehen, Geschlechtern wie Mann und Frau folgen – wir können es, wenn wir wünschen. Wir sind divers; wir haben verschiedene Körperformen, Kulturen, Erfahrungen und Hautfarben. Wir haben verschiedene Bedürfnisse – ein Fakt der respektiert, ja gefeiert werden muss und nicht unter den Teppich gekehrt werden soll.

Unser Feminismus bekämpft strukturelle Gewalt – auch in den eigenen Reihen. Das heisst, wir fordern Platz und Repräsentation für alle. Unsere Forderungen müssen gehört und als gleichwertig angesehen werden.  Unser Kampf braucht Ressourcen.

Unser linker Feminismus ist mehr als Gleichstellung. Es ist ein Analyseinstrument, eine politische Praxis und die Utopie einer demokratischen Wirtschaft, die sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen aller orientiert, einer Welt ohne Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung verlangt und Freiheit für alle garantiert.

Kurz: Es ist die einzig denkbare Zukunft.

Zu den Autor*innen: 

Tamara Funiciello ist Sozialistin und Feministin, Berner SP-Nationalrätin, Vorständin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und Co-Präsidentin der SP Frauen Schweiz.

Mia Jenni ist Sozialistin und Feministin, Teil der Geschäftsleitung der JUSO Schweiz und SP-Einwohnerrätin in Obersiggenthal (AG).